30. Juli 2021 Joachim Bischoff/Bernhard Müller: Hamburg als exemplarischer Fall
Corona-Pandemie verstärkt soziale Ungleichheit
Die Corona-Pandemie verstärkt bereits bestehende soziale Ungleichheiten. Die Krisenfolgen treffen vor allem die stärker, die auch vor der Krise über geringe Ressourcen verfügen. So sind die Ungleichheit der Löhne nach Leistungsgruppen, die Bildungsungleichheit, gesundheitliche Ungleichheit und Geschlechterungleichheit weiter angewachsen und ist die Schere zwischen Arm und Reich weiter aufgegangen.
Für Hamburg kommt hinzu, dass der Stadtstaat aufgrund seiner Wirtschaftsstruktur und der hohen Bedeutung von Tourismus und Geschäftsreisen besonders stark von den Folgen der Pandemie betroffen ist. Der rot-grüne Senat der Hansestadt hat bisher das Thema soziale Spaltung und ihre Verschärfung durch die Corona-Pandemie in Hamburg weitgehend ignoriert.
Die Linksfraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft hat dankenswerterweise eine Studie »Soziale Auswirkungen der Corona-Pandemie in der Freien und Hansestadt Hamburg« beauftragt.[1] Dieses Gutachten wurde von Rene Böhme von der Universität Bremen erstellt. Die Untersuchung der Effekte der Pandemie und der sozialstaatlichen Gegenmaßnahmen auf die bereits ausgeprägte soziale Spaltung in einem Stadtstaat können aus unserer Sicht exemplarisch interpretiert werden.[2] Wir heben daher die für uns wichtigsten Aspekte hervor und ergänzen die Studie um einige Aspekte.
Einbruch der Wirtschaftsleistung
Das Jahr 2020 wurde wesentlich durch die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Einschränkungen im Zuge der COVID-19-Pandemie geprägt. Die Beschränkungen des gesellschaftlichen Verkehrs hatten daher in den urbanen Räumen starke Effekte. Die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie wie die Schließung einzelner Wirtschaftsbereiche (so vor allem im Handel, im Gastgewerbe und in der Kultur) und die Einschränkungen des gesellschaftlichen Lebens führten trotz flankierender Maßnahmen (wie Veränderung bei der Kurzarbeit und Wirtschaftshilfen) für die betroffenen Betriebe und Selbstständigen sowie Konjunkturpakete zu einem deutlichen Rückgang der Wirtschaftsleistung, der Zahl der der Erwerbstätigen sowie einem – wenn auch moderaten – Anstieg der Arbeitslosenzahlen. Im Vergleich zum Vorjahr ist die durchschnittliche Arbeitslosenquote in Deutschland von 5,5% auf 6,5% gestiegen.
In der Hamburger Wirtschaft sind die Auswirkungen der Corona-Krise deutlich spürbar. Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamts für das Jahr 2020 ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP; Wert aller erzeugten Güter und Dienstleistungen) in Hamburg gegenüber 2019 nominal (in jeweiligen Preisen) um 4,4% gesunken. Das war in absoluten Zahlen ein Rückgang um 5,5 Mrd. Euro. Unter Berücksichtigung der Preisveränderungen ergab sich eine reale Minderung der Wirtschaftsleistung um 5,8%. Mit diesem Ergebnis liegt Hamburg unter der Entwicklung auf Bundesebene. In Deutschland insgesamt sank das Bruttoinlandsprodukt nominal um 3,4% und real um 4,9%.
Die Rezession trifft die Bundesländer unterschiedlich
Das Hamburger Verarbeitende Gewerbe zeigt 2020 gegenüber 2019 einen starken Rückgang um nominal 13,0% und real 13,8%. Die Einbußen fallen damit stärker als auf Bundesebene aus, wo sich Rückgänge im Verarbeitenden Gewerbe um nominal 9,9% und real um 10,5% zeigen. In allen drei für Hamburg bedeutsamen Bereichen Maschinenbau, »Sonstiger Fahrzeugbau« und »Reparatur und Installation von Maschinen und Ausrüstungen« kam es teils zu starken Einbußen im Vergleich zum Vorjahr.
Die Dienstleistungsbereiche insgesamt zeigen in Hamburg einen Rückgang um nominal 2,7% und real 4,9%. Auch in diesem Bereich fallen die Einbußen im Vergleich zur Bundesebene stärker aus. Hervorzuheben sind hier die sehr deutlichen Einbußen im Gastgewerbe. Der Einzelhandel konnte sich hingegen vergleichsweise gut behaupten.
Beschäftigung
Der Rückgang der wirtschaftlichen Leistung führte auch in Hamburg zu einem drastischen Anstieg der Arbeitslosigkeit. In der Spitze waren im Juli 2021 insgesamt 91.000 Hamburger:innen ohne Job.
Seitdem sind die Arbeitslosenzahlen leicht rückläufig. Im Juni 2021 waren immer noch 82.248 Hamburger:innen arbeitslos gemeldet. Damit ist die Arbeitslosigkeit innerhalb eines Jahres zwar um 5.527 oder 6,3% gesunken. Vor zwei Jahren, im Juni 2019, waren in Hamburg aber »nur« 64.691 Arbeitslose gemeldet, das waren 17.557 oder 21,3% weniger als im Juni 2021. Es hat also einen deutlichen Anstieg der Sockelarbeitslosigkeit geben. Die Arbeitslosenquote liegt bei 7,6%. Vor einem Jahr betrug sie noch 8,2%.
Im Vergleich der Bundesländer war der Anstieg der Arbeitslosigkeit in Berlin, Bremen, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern besonders stark ausgeprägt.
Kurzarbeit
Die Lage am Hamburger Arbeitsmarkt ist ohne Zweifel desaströs. Dass die Schwelle von 100.000 Arbeitslosen nicht überschritten wurde, liegt vor allem an der Kurzarbeit. Rund 94.000 Hamburger:innen befanden sich im März 2021 in Kurzarbeit. »Seit zwölf Monaten zeigen uns Hamburger Betriebe Kurzarbeit an, um ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter weiterhin in Lohn und Brot zu halten, um sie schnell wieder produktiv(er) einzusetzen, wenn die Dynamik in der Wirtschaft endlich wieder an Fahrt gewinnt«, so Söncke Fock (Leiter der regionalen BA). Er setzt darauf, dass mit der weiteren Rücknahme der Beschränkungen durch die Corona-Pandemie, die Zahl der Kurzarbeiter:innen – wie im Sommer letzten Jahres – wieder deutlich zurückgeht.
Die Daten für das Jahr 2020 zeigen, dass die Hamburger Betriebe Kurzarbeit eher vorsorglich angezeigt haben, dann aber nicht vollumfänglich nutzen mussten. So zeigten 27.814 Betriebe im gesamten Jahr 2020 Kurzarbeit für ihre 405.830 Beschäftigten an, die in der Regel für volle 12 Monate genehmigt wurde. Im Dezember 2020 reichten dann letztlich 11.023 Betriebe (Anteil von 39,6%) für 113.000 (27,9%) Beschäftigte ihre Anträge auf Erstattung ein.
Prekäre Beschäftigung
Leiharbeiter:innen und Minijober:innen gehören zu den Verlierern der Beschäftigungsentwicklung seit Beginn der Corona-Pandemie. So ist die Zahl der Minijobber:innen im gewerblichen Bereich in Hamburg seitdem erheblich zurückgegangen. Dabei ist der Rückgang in Hamburg im Ländervergleich überdurchschnittlich stark ausgefallen. Unter 30-Jährige (vermutlich viele Studierende) sowie Frauen waren von Rückgängen der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse überdurchschnittlich stark betroffen.
Drastischer Anstieg der Langzeitarbeitslosigkeit
Mit Beginn der Pandemie im März 2020 ist die Arbeitskräftenachfrage Hamburger Unternehmen fast vollständig zum Erliegen gekommen. Arbeitslose Menschen sahen sich einem verschlossenen Arbeitsmarkt gegenüber, der mit Kurzarbeit, einbrechenden Umsätzen, Lockdowns und gesundheitlichen Problemen umgehen musste. Vorstellungstermine, Probearbeiten oder befristete Jobs waren ein seltenes Gut geworden. Damit stieg die Dauer der individuellen Arbeitslosigkeit, bis hin zur Langzeitarbeitslosigkeit, die nach zwölf Monaten eintritt.
Folglich wuchs die Langzeitarbeitslosigkeit kontinuierlich an. Nicht nur Hamburg verzeichnete hohe Zuwächse, auch andere Metropolen waren mit dieser Entwicklung konfrontiert. Aktuell sind 29.339 Hamburger:innen länger als ein Jahr arbeitslos gemeldet, dies ist ein Anstieg um 9.447 oder 47,5% innerhalb von zwölf Monaten. Langzeitarbeitslose machen damit insgesamt einen Anteil von 35,7% an der Gesamtarbeitslosigkeit aus.
Lohnentwicklung
Infolge des Lockdowns und des Einbruchs der wirtschaftlichen Leistung ist es in Hamburg wie auch bundesweit erstmals seit längerer Zeit wieder zu einem Rückgang der durchschnittlichen Bruttolöhne im Vergleich zum Vorjahresquartal gekommen ist. Dieser Rückgang fiel in Hamburg im Mittel (-2,1%) etwas schwächer aus als bundesweit (-3,3%) Der Hauptgrund für diese Entwicklung ist der Rückgang der bezahlten Wochenstunden. Die finanziellen Verluste werden dabei nur zum Teil abgefedert durch das Kurzarbeitergeld.
Betrachtet man die Entwicklung zwischen den verschiedenen Lohngruppen[3], zeigt sich auch hier eine deutliche Zunahme der sozialen Ungleichheit. So betrifft der Rückgang der Löhne in Hamburg um im Mittel 2,1% nicht alle Lohnabhängige gleichermaßen. Besonders betroffen sind die beiden unteren Leistungsgruppen der Angelernten und Ungelernten. Hier lagen die Rückgänge bei 5 bis 10%, wobei Männer im Durchschnitt etwas stärker betroffen waren. Die obersten beiden Leistungsgruppen konnten dagegen weitere Lohnzuwächse erreichen. »Die Pandemie hat somit dazu geführt, dass die Lohnentwicklung nach Leistungsgruppen, welche in der Phase von 2015 bis 2019 in Hamburg schon wesentlich ungleicher verlief als bundesweit, noch einmal erheblich ungleicher geworden ist. In Hamburg fällt dabei zum Bundesdurchschnitt auf, dass die Entwicklung in der Gruppe der Ungelernten deutlich schlechter war, während sie in der Gruppe der Angelernten sowie der herausgehobenen Fachkräfte und Führungskräfte günstiger verlief.«[4]
Armut wächst
Eine weitere Folge von Lockdown und wirtschaftlichem Rückgang ist der deutliche Anstieg der Zahl der Menschen, die Hartz IV beziehen. Bei der Entwicklung der SGB II Quote fällt dabei im Ländervergleich »einerseits auf, dass die SGB II-Quote in den neuen Bundesländern trotz Lockdown weiter rückläufig war. Andererseits zeigt sich, dass neben den beiden anderen Stadtstaaten Berlin und Bremen sowie Rheinland-Pfalz mit Hessen, Baden-Württemberg, Hamburg und Bayern vor allem finanzstarke Bundesländer einen überdurchschnittlich negativen Trend aufweisen. Hamburg hat in Bezug auf den absoluten Anstieg in Prozentpunkten sogar die schlechteste Entwicklung im Ländervergleich.« Die ist vor allem auf die Branchenstruktur (hohe Bedeutung u. a. von Luftfahrt, Tourismus, Gastronomie, Kultur und Freizeit), die Betriebsgrößenstruktur (viele Beschäftigte in Kleinstbetrieben) und die Bevölkerungsdichte (stärkere Betroffenheit von Großstädten) in Hamburg zurückzuführen.
Untersucht man die Corona-Auswirkungen in Bezug auf den SGB II-Bezug hinsichtlich der soziodemografischen Differenzierung der Leistungsempfänger:innen,[5] zeigt sich, dass die Zahl der SGB II-Bezieher:innen vor allem in den Gruppen überdurchschnittlich stark gestiegen ist, in denen sie vorher eher unterdurchschnittlich war. »So fiel der Anstieg bei Alleinerziehenden deutlich niedriger aus als bei Singles oder Partner-Bedarfsgemeinschaften mit Kindern, obwohl die SGB II-Hilfequoten bei Alleinerziehenden im Juni 2019 mit 37,8% deutlich über derjenigen der Singles (12,4%) und bei Partner-Bedarfsgemeinschaften mit Kindern (9,9%) deutlich über derjenigen der Partner-Bedarfsgemeinschaften ohne Kinder (3,8%) lag. Ähnliche Konvergenzphänomene zeigen sich auch bei der Differenzierung nach Schul- und Berufsabschluss. So nahm die SGB II-Quote bei Personen mit Fachhochschul- und Hochschulreife überdurchschnittlich stark zu. Gleiches trifft für Personen mit akademischer Ausbildung zu. Auch stieg die SGB II-Quote der deutschen Bevölkerung stärker als die der ausländischen Bevölkerung, was ein klarer Trendbruch zum Zeitraum von 2015 bis 2019 darstellt.«[6] Weiter fällt der deutliche Anstieg von Aufstocker:innen von ALG I-Leistungen auf. Das hat vor allem damit zu tun, dass viele Menschen mit zuvor niedrigen Einkommen arbeitslos geworden sind.
Sozialräumliche Ungleichheit
Um zu analysieren, wie sich sozialräumliche Ungleichheit in Hamburg vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie entwickelt hat, haben die Bremer Forscher die SGB II-Hilfequoten der erwerbsfähigen Bevölkerung (15 bis 65 Jahre) auf der Ebene von 99 Hamburger Stadtteilen für die Zeiträume Juni 2015 bis Juni 2020 berechnet und vier Teilgruppen gebildet.[7]
Für diese vier Teilgruppen wurde jeweils die durchschnittliche SGB II-Quote ermittelt. Im Ergebnis zeigt sich, »dass auch in Hamburg die sozialräumliche Ungleichheit in den vergangenen Jahren zugenommen hat, d.h. sich die SGB II-Quoten zwischen den vier gebildeten Gruppen weiter auseinanderentwickelt haben – ein Trend wie er auch für die Stadt Bremen nachgewiesen werden konnte. Allerdings war in Hamburg v. a. das Jahr 2018 das Jahr, in dem die SGB II-Quoten in den Stadtteilen mit überdurchschnittlichen Werten im Mittel deutlich angestiegen sind. 2020 nahm die sozialräumliche Ungleichheit im Mittel (gemessen an der Standardabweichung) erstmals wieder leicht ab und die Werte der vier Teilgruppen näherten sich wieder etwas an.«[8]
Zusätzlich wurde in der Studie überprüft, wie sich die Stadtteile aus den vier Stadtteilgruppen (gebildet mit den Werten von 2019) von Juni 2019 zu Juni 2020 entwickelt haben. »Dabei wurde differenziert zwischen relativen Verbesserungen, Stagnationen (Veränderung des z-Werts von weniger als 0,1) und Verschlechterungen. Abbildung stellt die Anteile dieser drei Kategorien für die Stadtteile der jeweiligen Stadtteilgruppen dar.«[9]
Es zeigt sich, dass sich in der Gruppe der benachteiligten Stadtteile mit überdurchschnittlicher SGB II-Quote im Vergleich zu den anderen Gruppen überdurchschnittliche viele Stadtteile von 2019 zu 2020 verschlechtert haben. Die SGB II-Werte stiegen damit in den anderen Gruppen zwar relativ gesehen nur in wenigen Stadtteilen an, das Ausmaß dieser Anstiege lag jedoch dann überdurchschnittlich hoch.
Soziale Brennpunkte als Corona-Hochburgen
Es ist deshalb wenig überraschend, dass die Infektionszahlen pro 1.000 Einwohner:innen in den vier Stadtteilgruppen sehr unterschiedlich ausfallen. »Die Stadtteile mit einer deutlich unterdurchschnittlichen SGB II-Quote haben zu allen drei Einzelzeitpunkten die niedrigste Inzidenz, während die Stadtteile mit einer deutlich überdurchschnittlichen SGB II-Quote zu allen Zeitpunkten die höchsten Inzidenzen aufweisen. Zudem fällt auf, dass der Abstand der Infektionszahlen zwischen der 1. und 4. Stadtteilgruppe im Verlauf der Pandemie immer weiter zugenommen hat. Besonders hohe Infektionszahlen pro 1.000 Einwohner zeigen sich im gesamten Betrachtungszeitraum in den Stadtteilen Billlstedt, Wilhelmsburg, Jenfeld und Veddel.«[10]
Damit lässt sich nach Köln, Berlin und Bremen auch für Hamburg ein klarer sozialräumlicher Zusammenhang im Infektionsgeschehen aufzeigen: Die Bewohner:innen sozial benachteiligter Stadtteile deutscher Großstädte sind von Corona-Infektionen und deren Folgewirkungen überdurchschnittlich betroffen.
Ausbildung
Auch bei der Ausbildung zeigen sich die sozialen Auswirkungen der Corona-Pandemie. So berichtet das Statistische Bundesamt, dass im Jahr 2020 rund 465.200 Personen in Deutschland einen neuen Ausbildungsvertrag in der dualen Berufsausbildung abgeschlossen haben. Nach vorläufigen Ergebnissen waren das 9,4% weniger neue Ausbildungsverträge als 2019. Zwar sind die Ausbildungszahlen seit Jahren tendenziell rückläufig, der aktuelle Einbruch ist in seiner Höhe aber bislang einzigartig.
Im Ländervergleich fallen deutliche Unterschiede auf: Zwar sind in allen Bundesländern insgesamt rückläufige Zahlen zu beobachten, die prozentuale Höhe des Rückgangs unterscheidet sich zum Teil aber erheblich. Während in Hamburg (-13,5%) und im Saarland (-12,4%) die Zahlen am stärksten abnahmen, fiel der prozentuale Rückgang in Brandenburg (-2,8) und Sachsen (-4,8%) am geringsten aus.
Der deutliche Rückgang der neuen Ausbildungsverträge in Hamburg führt neben den Problemen vieler Jugendlicher am Übergang von der Schule in den Beruf noch zu einer anderen Folge. So lässt sich gleichzeitig feststellen, dass die Zahl der Studierenden an Hamburger Hochschulen vom Wintersemester 2019/2020 zum Wintersemester 2020/2021 von 110.220 auf 116.099 um 5,3% angestiegen ist. Wegen der höchsten Abnahme an neuen Ausbildungsplätzen in Verbindung mit dem Anstieg der Studierendenzahlen droht die Gefahr, dass sich die Polarisierung zwischen dualer und tertiärer Bildung zu verschärft.
Handlungsdefizite
Die Studie zeigt, dass die Pandemie »die Krise soziale Ungleichheiten verschärft und die Schere zwischen privilegierten Menschen und denjenigen in prekären Lebenslagen weiterwächst. So sind ärmere Menschen von der Pandemie besonders stark betroffen und das in vielerlei Hinsicht. Sie sind in ihrem Alltag nicht nur häufiger einem Risiko für eine Infektion ausgesetzt, sie haben auch ein höheres Risiko für einen besonders schweren Krankheitsverlauf. Auch sind Arbeitnehmer:innen, die schon vor Corona in schlechter bezahlten Jobs arbeiteten und weniger Einkommen zur Verfügung hatten, während der Krise besonders von Einkommenseinbußen und Arbeitslosigkeit betroffen. Mehr noch: es zeigt sich, dass auch Bildungs- und Geschlechterungleichheit infolge der Pandemie weiter angewachsen sind. Hamburg bildet dabei keine Ausnahme, sondern ist bei einigen Kennzahlen im Vergleich der Bundesländer trauriger Spitzenreiter.«[11]
Bei Beschäftigung, Ausbildung, sozialer Stadtteilentwicklung und öffentlicher Infrastruktur ist der Handlungsbedarf ganz offensichtlich. Aber der rot-grüne Senat verhält sich wie schon in der Vergangenheit weitgehend ignorant gegenüber den Strukturproblemen und der sozialen Spaltung in der Stadt. In Hamburg gibt es bis heute nur wenig mobile Impfbusse für die von der Corona-Pandemie besonders betroffenen Stadtteile.
Ganz zu Recht fordert Klaus Wicher, der 1. Vorsitzende des Hamburger Landesverbands des Sozialverband Deutschland (SoVD), vom Hamburger Senat mehr Transparenz beim Thema Armut. In Hamburg sorge Armut für deutlich mehr soziale Unterschiede als im Rest Deutschlands. Das Preisniveau sei hoch, wer von Grundsicherung leben muss oder nur ein bisschen mehr hat, bekomme in der Hansestadt weniger für sein Geld als anderswo. Mehr als 18% aller Hamburger:innen seien von Armut bedroht. Am anderen Ende der sozialen Skala stünden rund 9,6%, die zu den Einkommensmillionären gehören. »Ein regelmäßiger Armuts- und Reichtumsbericht würde ein Schlaglicht auf die aktuelle soziale Lage in unserer Stadt werfen«, so der Hamburger SoVD-Chef.
Mit verlässlichen Daten könnte Armut in Hamburg gezielter bekämpft werden. Denn strukturschwache Stadtteile wie die Veddel, Steilshoop oder Billstedt brauchen zum Beispiel mehr und andere Förderung als reiche wie Nienstedten. »In Nienstedten leben gerade mal 0,5% der Kinder von Mindestsicherung, in Billbrook und Steilshoop ist es jedes zweite. Auch die Anzahl der Rentnerinnen und Rentner, die von Grundsicherung leben müssen, oder die, die alleinerziehend sind und viele Kinder haben, ist in den Stadtteilen sehr unterschiedlich. Sie brauchen besondere Förderung, die Stadt wäre durchaus in der Lage, sie mit einem Zuschuss zu unterstützen«, sagt Klaus Wicher.
Er ist sich sicher, dass sich die Armutslage in Hamburg durch die Corona-Pandemie verstärkt hat: »Ich mache mir inzwischen große Sorgen um die Kurzarbeitenden und die vielen Selbstständigen, deren Existenz akut bedroht ist. Ich befürchte, dass auf eine große Zahl von ihnen ein sozialer Abstieg zukommt. Auf all diese Entwicklungen und Veränderungen muss die Stadt reagieren können. Ein jährlicher Armuts- und Reichtumsbericht würde dabei wertvolle Dienste leisten.«
Von alldem ist der rot-grüne Senat weit entfernt. Er hat zwar in den letzten Jahren seine bisherige Politik der Haushaltskonsolidierung (teilweise) korrigiert und hat die relativ guten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und die damit einhergehenden Steuermehreinnahmen genutzt, um mit einer deutlichen Steigerung der Ausgaben einige Fehlentwicklungen in der Stadt zu korrigieren. Das reichte aber schon vor Corona nicht aus. Beispiel Wohnungsbau. Wenn jedes Jahr 20.000 Menschen zusätzlich in die Stadt kommen, reichen die projektierten 3.000 neuen preiswerten Wohnungen nicht einmal aus, um diese Neuankömmlinge unterzubringen. Am Fehlbestand von 80.000 preiswerten Wohnungen ändert sich nichts, im Gegenteil wird er durch Wohnungen, die aus der Preisbindung fallen, nur noch größer.
Hinzu kommen die großen Probleme in der Wirtschaftsstruktur Hamburgs. Vor allem die Hamburger Hafenwirtschaft hat immense Schwierigkeiten, die durch die Corona-Pandemie und ihre wirtschaftlichen Folgen noch verschärft werden. Durch die Wirtschaftskrise sind zudem weitere Leuchttürme der Hamburger Wirtschaft, wie die Luftfahrtindustrie oder der Tourismus, massiv ins Wanken geraten sind.
Die großen Defizite der Stadt, wie die immer deutlicher zutage tretende Strukturschwäche der Hamburger Wirtschaft mit ihrer einseitigen Ausrichtung auf die Hafenwirtschaft wie auch die wachsende soziale Spaltung in der Stadt sind mit der in der Corona-Pandemie praktizierten Politik nicht zu lösen. Der Senat hat zwar mit seinen großzügigen Anti-Corona-Maßnahmen viel getan, um die dramatischen Folgen der Pandemie ökonomisch und sozial abzufedern. Aber hinter diesen Maßnahmen ist kein in die Zukunft gerichteter Plan erkennbar, wie der dringend notwendige Umbau der Hamburger Wirtschaft bewältigt werden soll. In Sachen aktiver Arbeitsmarktpolitik und Kampf gegen die vielen Facetten sozialer Spaltung in der Stadt muss von einem völligen Versagen der politischen Führung der Stadt gesprochen werden. Dieses vernichtende Urteil über die rot-grüne Politik bei der Bekämpfung der Pandemie ist wenig überraschend. Schon die letzten Jahre war die aktive Bekämpfung von sozialer Spaltung und Benachteiligung nicht sonderlich ausgeprägt. Vor allem ein entschiedeneres Engagement gegen die wachsende Altersarmut und die geringe Förderung der sozial benachteiligten Quartiere ist von den Sozialverbänden und Gewerkschaften immer wieder attackiert worden.[12]
Es kann also nicht die Rede davon sein, dass der Senat die zur Bekämpfung der Corona-Pandemie zusätzlich aufgenommen Kredite nutzt, um die Infrastruktur nachhaltig zu verbessern, eine zukunftsorientierte Strukturpolitik anzustoßen und die brennendsten sozialen Probleme der Stadt anzugehen. Dazu gehört auch und vor allem die Förderung des Baus von preiswerten Wohnungen. Das wäre auch ein wirkungsvoller Beitrag, um den durch die Pandemie ausgelösten Konjunktureinbruch zu dämpfen. Der finanzielle Spielraum für solche Maßnahmen könnten zudem mit einer deutlichen Verbesserung des Steuervollzugs und Initiativen etwa für die Wiedereinführung der Vermögenssteuer auf Bundesebene noch vergrößert werden. Insgesamt geht es um
- Maßnahmen zur Eindämmung der sozialen Spaltung (deutlich verbilligte HVV-Abos und günstige Kulturangebote für Sozialleistungsbezieher*innen, kostenloses Mittagessen in Kitas etc.);
- die Entwicklung eines sozialen Arbeitsmarkts;
- um ein großzügig angelegtes Programm für den Bau preiswerter Wohnungen;
- um Investitionen in die öffentliche Infrastruktur, die den Vermögensverschleiß beenden;
- um die endgültige Beendigung des Personalabbaus im öffentlichen Dienst auch in den »nichtpriorisierten Bereichen« wie etwa in den Bezirksämtern. Vor allem die Bezirke brauchen mehr Personal, um ihre gewachsenen Verpflichtungen bewältigen zu können. Die unsinnige Beschränkung des jährlichen Wachstums der Personalkosten muss beendet werden, und auch für die Sozialunternehmen sollte diese »Kostenbremse« endlich aufgegeben werden.
- und nicht zuletzt ein Strukturprogramm für die Hamburger Wirtschaft etwa durch Stärkung bestimmter Cluster (Life Science etc.), das der Krise der Hafenwirtschaft, aber auch der Luftfahrtindustrie und des Tourismus entgegenwirkt.
Anmerkungen
[1] Rene Böhme unter Mitarbeit von Lukas Schubert: Soziale Auswirkungen der Corona-Pandemie in der Freien und Hansestadt Hamburg. Kurzgutachten im Auftrag der Fraktion DIE LINKE in der Hamburgischen Bürgerschaft, Juli 2021. Die Studie kann heruntergeladen werden auf der Website der Linksfraktion www.linksfraktion-hamburg.de. Die folgende Darstellung stützt sich im Wesentlichen auf diese Studie. Auf den Aspekt der Verteilungswirkungen der Corona-Hilfsmaßnahmen gehen wir hier nicht näher ein, weil es sich im Wesentlichen um eine Literaturstudie und Expert:innenbefragungen handelt.
[2] Die Studie kann allerdings die Defizite der öffentlichen Statistik auch und gerade bei der Erfassung des Infektionsgeschehens auf Stadteilebene nicht überspringen, sondern muss sich mit dem vorliegenden Material begnügen. Die Statistik auf Stadtteilebene ist in den letzten Jahren eher zurückgefahren worden. Das Datenmaterial aus dem jährlich angebotenen Sozialmonitoring ist mehr als dürftig und wird den Anforderungen an eine Politik der integrierten Stadtteilentwicklung in keiner Weise gerecht.
[3] Für eine solche Fragestellung hat sich das Konzept der Leistungsgruppen etabliert. Hierbei wird in fünf Gruppen unterschieden, wobei Führungskräfte in Gruppe 1 und Ungelernte in Gruppe 5 die beiden Pole bilden.
[4] Ebd., S. 16.
[5] Hierbei wurden jeweils die Werte für die Freie und Hansestadt Hamburg aus den Berichtssystemen der Bundesagentur für Arbeit (2021) des Juni 2019 mit den Angaben für den Juni 2020 verglichen und hinsichtlich der Ausgangswerte sowie möglicher Trendbrüche eingeordnet.
[6] Ebd., S. 18:
[7] Im Anschluss wurden pro Zeitraum mithilfe des städtischen Mittelwerts und der Standardabweichung jeweils vier Teilgruppen gebildet. Die erste Gruppe umfasst Stadtteile mit einem z-Wert kleiner als -1 (deutlich unterdurchschnittliche SGB II-Quote2). Zur zweiten Gruppe gehören Stadtteile mit einem z-Wert kleiner 0, aber größer als -1 (leicht unterdurchschnittliche SGB II-Quote3). In die dritte Gruppe wurden Stadtteile mit einem z-Wert größer 0, aber kleiner als 1 einsortiert (leicht überdurchschnittliche SGB II-Quote4) Und Stadtteile mit einem z-Wert größer als 1 bilden die 4. Gruppe (deutlich überdurchschnittliche SGB II-Quote5).
[8] Böhme a.a.O., S. 19:
[9] Ebd., S. 20:
[10] Ebd., S. 21:
[11] Stephanie Rose und Olga Fritzsche von der Linksfraktion im Vorwort zur Studie.
[12] Siehe hierzu z.B. Joachim Bischoff/Bernhard Müller. »Trend zur Mitte«? Die Verteilung von Reichtum und Armut in Hamburg; Joachim Bischoff/Bernhard Müller. Hamburg: Wachsende Ungleichheit und Armut – kein Thema für Rot-Grün.