Der rechte Rand

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18. August 2020 Joachim Bischoff / Bernhard Müller

Hamburg: Wachsende Ungleichheit und Armut – kein Thema für Rot-Grün

Im Sommerinterview betonte der erste Bürgermeister der Stadt, Peter Tschenscher, dass die Hamburger Regierung trotz Corona-Krise daran festhalte, ihr Koalitionsprogramm umzusetzen. »Es gibt keine Luxusvorhaben. Wir müssen schon an den richtigen Stellen jetzt die Weichen stellen«, sagte Tschentscher. »Denn man kann sich in eine Krise auch hineinsparen und sie dadurch schlimmer machen.«

Zunächst sei es wichtig, die Folgen der Corona-Krise zu überwinden. Dazu führe er viele Gespräche mit einzelnen Branchen, um Arbeitsplätze zu erhalten, sagte der Bürgermeister. »Wenn das alles gelingt, dann haben wir die gleichen Themen wie vor der Corona-Krise: Klimaschutz, wir wollen das CO2 reduzieren und die Mobilitätswende schaffen. Wir wollen Radwege bauen und den öffentlichen Nahverkehr ausbauen. Das sind wirklich dicke Bretter, die wir bohren.« Keine Frage: Der Kampf gegen die Pandemie und ihre wirtschaftlich-sozialen Folgen hat Priorität, wenngleich bislang noch keine Konzeption zur Bewältigung des Strukturwandels für die Hansestadt erkennbar ist. 

Unsere Kritik zielt auf eine weitere politische Ignoranz: Zu den wirklich dicken Brettern, die es zu bearbeiten gilt, zählen offensichtlich nicht die dramatische Situation am Hamburger Arbeitsmarkt sowie die soziale Spaltung der Stadt, die durch die Corona-Krise noch weiter verschärft wird. Auch der Strukturwandel der Hamburger Wirtschaft gehört offensichtlich nicht zu den Prioritäten auf der politischen Agenda von Rot-Grün.

Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit auf Rekordstand

Die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie sorgen am Hamburger Arbeitsmarkt für einen Negativrekord, den es lange nicht gegeben hat. Erstmals seit anderthalb Jahrzehnten hat die Zahl der Arbeitslosen in Hamburg die Marke von 90.000 übersprungen. Im Juli lag die Zahl der Jobsuchenden bei 91.140. Zuletzt registrierte die Agentur im Januar 2005 bei der Einführung von Hartz IV einen Anstieg der Arbeitslosigkeit auf über 90.000. Damals zählte man 90.035 Jobsuchende. Die bisher höchste Arbeitslosigkeit seit 1950 in Hamburg gab es im Februar 1952 mit 110.800 Personen.

Mit diesem Anstieg der Arbeitslosigkeit liegt Hamburg beim Ranking der Bundesländer ganz weit oben. Die Hansestadt hat hier nach Bayern (+46%), Baden-Württemberg (+44,8%) und Berlin (+37,6%) mit 35,4 % einen besonders massiven Zuwachs an Arbeitslosen gegenüber dem Vorjahr zu verkraften. Auch bei den Arbeitslosenquoten zählt Hamburg inzwischen nach Bremen und Berlin mit 8,5%  zu den am stärksten betroffenen Bundesländern. In allen Ländern hat die Arbeitslosenquote gegenüber Vorjahr zugenommen. Die stärksten Anstiege werden in den Stadtstaaten Berlin (+2,8%) und Hamburg (+2,2%) ausgewiesen.

Dass nicht noch mehr Lohnabhängige von Arbeitslosigkeit betroffen sind, liegt vor allem am arbeitsmarktpolitischen Instrument der Kurzarbeit. Seit Beginn der Corona-Pandemie Mitte März bis Juli summieren sich die Kurzarbeitsanträge auf 24.063 Anzeigen mit rund 367.000 Beschäftigten.

Besonders betroffen vom Einbruch am Arbeitsmarkt sind vor allem prekär Beschäftigte. »Corona trifft alle. Mache aber schlimmer: Das sind Minijobber, Leiharbeiter, Solo- Selbstständige, Kleingewerbetreibende, junge Leute«, so der Hamburger SoVD-Chef Klaus Wicher. In den 1990er Jahren ging nur jeder fünfte Arbeitnehmende einer atypischen Beschäftigung nach, heute etwa jeder dritte. Zudem wird prekäre Beschäftigung zumeist niedrig entlohnt. Mehr als sieben Mio. Menschen hatten vor der Krise einen Minijob.

Minijobs aber seien sind nicht krisenfest. Die Folgen von Mini-Job oder Leiharbeit werden in der Corona-Krise klar. »Viele Jobs, etwa in der Gastronomie, im Einzelhandel, im Reinigungs-gewerbe oder in der Landwirtschaft fallen weg. In Finkenwerder bei Airbus erleben wir, dass Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter zu den ersten gehören, die betroffen sind.«

Wicher warnt vor den langfristigen Folgen gering bezahlter Arbeit: Rentenkassen und Sozialversicherungen fehlt Geld. »Der Senat kann hier helfen, um individuelle Schicksale aber auch gesellschaftliche Folgen abzumildern.« Wicher fordert daher einen sozialen Arbeitsmarkt, eine öffentliche Auftragsvergaben besonders für Selbstständige und Kurzarbeitergeld auch für geringfügig Beschäftigte.

Der Verlust der Arbeit, aber auch Einkommensverluste durch Kurzarbeit verschärfen die soziale Schieflage nicht nur in Hamburg. Hinzu kommen die sozialen Folgewirkungen der zeitweiligen Schließung von Kindergärten und Schulen, von Homeoffice und Homeschooling. Es ist zu befürchten, dass die Armut weiter wächst und damit sozialen Sicherungssysteme erneut unter Druck geraten, weil mehr Menschen auf die schon bisher völlig unzureichenden Mindestleistungen angewiesen sind.

Mindestsicherung

Schon vor Corona war in Hamburg fast jeder Sechste von Armut bedroht und mussten 13% der Hamburger Bürger*innen  Mindestsicherungsleistungen in Anspruch nehmen. Am Jahresende 2018 waren etwa 240.000 Bürger*innen der Stadt ganz oder teilweise auf Sozialleistungen zur laufenden Lebensführung angewiesen. Der Rückgang der Empfänger*innen von Mindestsicherungsleistungen in 2018 gegenüber 2017 (um etwa 5.000) rührte ganz überwiegend daher, dass die Zahl der Bezieher*innen von ALG II und Sozialgeld, aber auch die der Zufluchtsuchenden zurückgegangen ist.

  • Knapp 180.000 Menschen erhielten Ende 2018 Gesamtregelleistungen (Arbeitslosengeld II/Sozialgeld) nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II »Grundsicherung für Arbeitsuchende«; sogenanntes Hartz IV).
  • Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII »Sozialhilfe« erhielten gut 44.600 Menschen. Das waren 1.600 mehr als 2017.
  • Regelleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) bekamen rund 11.200 Menschen. Der Rückgang um etwa 500 beruht insbesondere auf der Zahl abgeschlossener bzw. entschiedener Asylverfahren. Die betroffenen Personen erfüllen nicht mehr die Leistungsvoraussetzungen des AsylbLG.

Einen längerfristigen Aufwärtstrend gibt es bei der Zahl der auf Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsunfähigkeit angewiesenen Bürger*innen. Gleichzeitig schwankt seit einigen Jahren die Zahl der Langzeitarbeitslosen im Hartz-IV-System zwischen 180.000 und 190.000. Die Zahl der Kinder, die von Sozialgeld leben, ist aber seit 2010 gestiegen. 2018 waren 51.500 Kinder in Hamburg darauf angewiesen. Kinder- und Altersarmut sind auch in Hamburg ein immer drängenderes soziales Problem.

Insgesamt bezogen 2018 damit 13,0% der Hamburger Bevölkerung Sozialleistungen zur laufenden Lebensführung (Vorjahr: 13,3%).



2019 hat Hamburg 1,15 Mrd. Euro für die Sozialhilfe ausgegeben. Hinzu kommen 231 Mio. Euro für Leistungen nach dem Asylbewerbergesetz und für das Wohngeld in Höhe von 26,4 Mio. Euro (2017). Die größten Brocken entfielen dabei mit 498,6 Mio. Euro auf die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen und die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung in Höhe von 328,1 Mio. Euro.

Besonders hoch ist der Anteil der Menschen, die auf soziale Mindestsicherungsleistungen angewiesen sind in den Stadtstaaten und Bremen (17,4%) und Berlin (16,8%), gefolgt von Hamburg. Aber auch in vielen Flächenländern hat sich ihr Anteil in den letzten Jahren deutlich erhöht. So ist die Quote in Nordrhein-Westfalen von 10,2% in 2010 auf nun 11,3% in 2018 gestiegen. Absolut waren das gut 2,0 Mio. Menschen, die in NRW auf Mindestsicherungsleistungen angewiesen waren. Dies entspricht mehr als 27% aller auf Mindestsicherung angewiesener Menschen in Deutschland.

Die Zahl und Quote der Mindestsicherungsempfänger markieren keineswegs das ganze Ausmaß an Armut in der Berliner Republik und in Hamburg. Denn tatsächlich beantragen Millionen Bürger*innen keine Hartz IV- oder Grundsicherungsleistungen, obwohl sie mit ihrem Netto-Einkommen einschließlich Wohngeld, Kindergeld und Kinderzuschlag über weniger als das Existenzminimum verfügen, und damit Anspruch auf soziale Unterstützung haben. Das heißt, dass sie das soziale Basisnetz nicht in Anspruch nehmen, obwohl sie wegen geringen Einkommens oder Vermögens Anspruch darauf hätten. Keine Frage: Die gesellschaftliche Diskriminierung von Armut und der bürokratische Umgang bewirken, dass viele Benachteiligte auf soziale Rechte verzichten. Zweitens können viele von Armut Betroffene das soziale Netz nicht in Anspruch nehmen, weil sie trotz Bedarf die Leistungsvoraussetzungen nicht erfüllen.

So liegt denn auch die Armutsgefährdungsquote in Deutschland , die den Anteil der Bevölkerung misst, der weniger als 60% des Durchschnitteinkommens zur Verfügung hat, 2019 mit 15,9% deutlich über der Quote der Empfänger*innen von Mindestsicherungsleistungen von 8,7% (2018). Das bedeutet, dass tatsächlich etwa 12 Mio. Bürger*innen in Deutschland arm sind. Und die Armutsgefährdungsquote hat seit 2006 trotz guter ökonomischer Rahmenbedingungen von 13,9% auf 15,9% in 2019 deutlich zugenommen.

Die Armut ist im Zeitraum von 2009 bis 2019 in allen westlichen Bundesländern und in Berlin gestiegen. Dabei hat sich der Anteil der von Armut bedrohten Menschen in Bremen am stärksten erhöht: Dort war 2019 fast ein Viertel (24,9 %) der Bevölkerung armutsgefährdet, mehr als in jedem anderen Bundesland. 2009 hatte der Anteil der armutsgefährdeten Personen in Bremen gut ein Fünftel (20,1 %) betragen. Auch in Hessen (2019: 16,1 %, 2009: 12,4 %) und Nordrhein-Westfalen (2019: 18,5 %, 2009: 15,2 %) ist das Risiko, einkommensarm zu sein, seit 2009 vergleichsweise stark gestiegen. Die Armutsgefährdungsquote ist ein Indikator zur Messung relativer Einkommensarmut.

In Hamburg waren in 2019 15,0% (gemessen am Bundesmedian) der Bürger*innen von Armut bedroht. Damit ist die Armutsquote – entgegen dem Bundestrend– in 2019 leicht zurückgegangen. 2018 lag sie in Hamburg noch bei 15,3%. Bei der am Landesmedian gemessenen Armutsquote, die die regionalen Lebensbedingungen (Lebenshaltungskosten, Wohnen) besser berücksichtigt, liegt Hamburg mit 17,9% im Länderranking mit Bremen (18,5%) und Berlin (17,8%) an der Spitze.



Es kann also mit Blick auf die soziale Spaltung keineswegs von einer Trendwende gesprochen werden(1). Dies zeigt sich auch und gerade bei der Einkommensreichtumsquote, die den Anteil derer misst, die über mehr als 200% des Medianeinkommens verfügen. Hier liegt Hamburg mit einem Anteil von 10,9% (Bundesdurchschnitt: 7,9%) einsam an der Spitze. Die Schere zwischen Arm und Reich geht weiter auseinander.


Arm sein bedeutet in Hamburg im Jahr 2019 für einen Ein-Personenhaushalt mit weniger als 1.145 Euro auskommen zu müssen. Bei einem Haushalt mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern liegt die Armutsschwelle bei 2.404 Euro..

Mit Blick auf die von Armut besonders betroffenen Gruppen zeigt sich, dass Alleinerziehende und Kinder und Jugendliche in Hamburg immer noch besonders betroffen sind. Bei den Alleinerziehenden wurde 2019 mit 30,7% erneut ein sehr hoher Spitzenwert gemessen. Bei Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren betrug der Anteil der Armen 18,9%. Und bei den Menschen mit Migrationshintergrund lag die Betroffenheit von Armut mit etwa 26,5% auf einem hohen Niveau.


Massiver Anstieg der Altersarmut

Nach Zahlen des Europäischen Statistikamts (Eurostat) ist in Deutschland mittlerweile fast jeder Fünfte über 65 Jahren von Altersarmut betroffen. Bereits im Jahr 2006 waren es 1,9 Mio. Menschen in der Alterskategorie 65 oder älter, die von der Altersarmut akut bedroht waren. Das entspricht einem prozentualen Gesamtanteil von 12,5%. 2017 waren es dann schon rund 2,8 Mio. die vor der Altersarmut standen (17%). 2018 waren dann bereits 3,1 Mio. (18,2%). Und die Tendenz ist weiter steigend. Die Zahlen des Statistischen Bundesamts liegen im Niveau um etwa 1% niedriger, zeigen aber die gleiche Entwicklungstendenz.

Länger arbeiten bei weniger Rente

Gleichzeitig arbeiten Bundesbürger*innen und Hamburger*innen  deutlich länger als noch vor einigen Jahren. Die Bürger*innen müssen also länger arbeiten, bekommen aber gleichzeitig weniger Rente. Das hat vor allem damit zu tun, dass das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre angehoben wurde und gleichzeitig das Rentenniveau von 48% auf 43% in 2030 sinken soll.
Eine Reaktion auf die Bedrohung durch Altersarmut: länger arbeiten. Ende 2019 hatten in Hamburg knapp 22.000 Senior*innen ab 65 Jahren eine geringfügige Beschäftigung. Die Zahl der Rentner*innen mit Minijob stieg damit seit 2003 um 84%.

Auch die Zahl der sozialversicherungspflichtig arbeitenden Senior*innen hat deutlich zugenommen. Im Dezember 2019 waren über 12.200 sozialversicherungspflichtige Lohnabhängige älter als 65 Jahre. Rechnet man die raus, die die Altersgrenze noch nicht erreicht haben, waren das immer noch 8.600 Senior*innen. 2003 gingen erst 3.600 Rentner*innen zusätzlich einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nach.

Die niedrigen Alterseinkommen haben auch damit zu tun, dass die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Jobs in Hamburg seit 2003 zwar um 24% gestiegen ist, dabei aber vor allem die »atypische Beschäftigung« deutlich zugenommen hat. So stieg die Zahl der Teilzeitbeschäftigten von 2003 bis 2017 um 83%: von 133.000 auf 245.000. Und die Zahl der Leiharbeiter*innen stieg sogar um 115%, von 13.900 auf 29.900. Nur die Zahl der geringfügig Beschäftigten lag mit einem Zuwachs um 21% (von 144.000 auf 174.000) leicht unter dem generellen Anstieg der Arbeitsplätze.

Grundsicherung

Über eine Million Menschen nehmen die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung in Anspruch. Dies ist eine andere Konsequenz aus wachsender Altersarmut. Als bedarfsorientierte Sozialleistung für hilfsbedürftige Personen ist sie das letzte Netz der sozialen Sicherung in Deutschland für ältere Menschen und Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeiten können. Eine ausreichende gesellschaftliche Teilhabe ist damit nicht gewährleistet, da in der Regelsatzberechnung wie bei den Hartz IV-Leistungen viele Bedürfnisse nicht berücksichtigt werden.

Bundesweit bezogen im Dezember 2019 rund 1.085.000 Personen Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII). Das waren etwa 7.000 bzw. 0,6 % mehr Leistungsempfänger*innen als im Dezember 2018. Seit Einführung der Leistung im Jahr 2003 ist die Zahl der Leistungsberechtigten um etwa 650.000 gestiegen.

Auch im Bundesland Hamburg zeigt sich diese Entwicklungstendenz. Hier zählten im Dezember 2019 46.200 Personen zu den Empfänger*innen. Gegenüber 2003 entspricht dies einem Anstieg um über 300%. Es handelt sich dabei zu fast 59,6% (absolut: 27.582) um ältere Menschen, 41,4% (absolut: 18.658) sind dauerhaft Erwerbsgeminderte im Alter zwischen 18 Jahren und der Regelaltersgrenze. Der Anteil der Erwerbsgeminderten an allen Leistungsempfänger*innen hat sich seit 2003 schrittweise erhöht.

Die gesellschaftlichen Kosten von Erwerbsminderungs- und Altersarmut sind beträchtlich. 2018 mussten dafür in Hamburg 318 Mio. Euro aufgebracht werden. Das waren 98 Mio. Euro mehr als in 2013 und 308 Mio. Euro mehr als noch 2006. Und es ist keine gewagte Prognose, dass die Ausgaben für diese Mindestsicherungsleistung in den nächsten Jahren weiter sprunghaft zunehmen werden.

Am Jahresende 2019 haben in Hamburg 27.600 Frauen und Männer Grundsicherungs­leistungen im Alter zur Sicherstellung der laufenden Lebensführung erhalten. Das sind 4% mehr als ein Jahr zuvor. 54% der Unterstützten waren Frauen. 7% lebten in Einrichtungen und 75% erhielten die Hilfe ergänzend zur Altersrente. 45% der Hilfeempfänger*innen waren aus dem Bezug von Arbeitslosengeld II (»Hartz IV«) in die Grundsiche­rung übergeleitet worden und 12% hatten zuvor Sozialhilfe in Form von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt erhalten.

Bezieht man die Grundsicherungsempfänger*innen auf die jeweilige Gesamtbevölkerung zeigt sich, dass die Grundsicherungsquote in Hamburg Ende 2019 mit 8,5% (Regelaltersgrenze und älter) zwar noch recht niedrig liegt, allerdings kontinuierlich steigt. Und Hamburg liegt beim Anteil der Grundsicherungsempfänger*innen in Deutschland einsam an der Spitze (Durchschnitt Bund: 3,2%). Bremen (6,9%) und Berlin (6,6%) folgen dahinter mit deutlichem Abstand.

Besonders hoch ist der Anteil der Grundsicherungsbezieher*innen bei den Bürger*innen ohne deutschen Pass. Hier lag die Grundsicherungsquote Ende 2018 bei 28,5%. Aber auch bei den deutschen Senior*innen ist die Quote kontinuierlich auf 6,3% Ende 2018 gestiegen.

Die Quote der Grundsicherungsempfänger*innen im Alter zeigt aber noch nicht das ganze Ausmaß an Altersarmut in der Stadt. So waren in 2019 (gemessen am Bundesmedian) 16,0% der Senior*innen von Altersarmut betroffen. 2005 lag die Quote noch bei 7,6%. Dies bedeutet, dass mehr als 53.000 der über 65-Jährigen in der Hansestadt armutsgefährdet sind. »Bei der aktuellen Entwicklung wird Altersarmut bald wieder oben auf der Agenda der Politik stehen. Denn die Lage älterer Menschen, die finanziell unterversorgt sind, dürfte sich nach Corona verschlechtern. Ursachen sind das sinkende Rentenniveau, lückenhafte Erwerbsverläufe, Niedriglöhne, Teilzeitbeschäftigung und die Minijobber, die in der Corona-Zeit ihren Job verlieren. Dies führt zu geringeren Beitragszahlungen und einer schwächer ausgestatteten Rentenkasse«, sagt Klaus Wicher, 1. Landesvorsitzender Sozialverband Deutschland (SoVD) in Hamburg.

Der DGB Hamburg fordert, das Problem von Armut im Alter auf drei Ebenen anzugehen:

  •  Mehr Unterstützung für die aktuell Betroffenen: Zum Beispiel durch einen finanziellen Aufschlag auf die Grundsicherung, mehr bezahlbaren Wohnraum, der alters- und alternsgerecht ausgebaut wird und mehr Vergünstigungen, zum Beispiel beim öffentlichen Nahverkehr.
  • Maßnahmen gegen prekäre Beschäftigung, Tarifbindung steigern und Arbeit alternsgerecht gestalten. DGB-Chefin Karger: »Gute Löhne und ordentliche Arbeitsbedingungen sind der beste Schutz vor Altersarmut. Doch in der Arbeitswelt ist leider viel zu oft noch das Gegenteil normal: In Hamburg arbeitet jede/r siebte zu einem Niedriglohn. Gleichzeitig sind Beschäftigte durch ihren Job oft so ausgepowert, dass sie vorzeitig in Rente gehen müssen, was sich erheblich auf die Rentenhöhe auswirkt.«
  • Soziale Armut bekämpfen: Durch die Corona Pandemie mussten viele Ältere ihre Kontakte erheblich einschränken, waren mit Einsamkeit konfrontiert. Deswegen ist eine Ausweitung der aufsuchenden Seniorenarbeit wichtig, auch wenn sie unter den aktuellen Bedingungen nicht einfach umzusetzen ist.

Der Hamburger Senat reagiert auf das Thema Altersarmut wie auf die soziale Spaltung in der Stadt mit Verdrängung und Ausflüchten. Unübersehbar gibt es auch in Hamburg reichlich Armut, die durch die Corona-Pandemie weiter zunehmen wird. Zwar werden Problemfelder angegangen, aber die verfestigte soziale Spaltung wird von der rot-grünen Landesregierung hartnäckig ignoriert.
Beispiel Kinderarmut. Nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung ist der Kampf gegen die Kinderarmut in Hamburg bislang weitgehend erfolglos geblieben. 2011 lebten 20,9% aller Kinder unter 18 Jahren in Familien, die Sozialhilfe (Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II) bekamen, Ende 2014 waren es 20,2%, Ende vergangenen Jahres 19,7%. Mit anderen Worten: Innerhalb von acht Jahren hat es gerade mal einen Rückgang von rund einem Prozentpunkt gegeben. Zugleich waren die vergangenen acht Jahre eine Zeit des wirtschaftlichen Aufstiegs – ein Aufstieg, der an rund einem Fünftel der Hamburger Kinder vorbeigegangen ist.

Anette Stein, die Leiterin der Studie, fordert deshalb einen »Systemwechsel« bei den Sozialleistungen. »Die bisherigen Maßnahmen haben nicht zum Ziel geführt«, sagt sie. „Wir brauchen ein Grundeinkommen für Kinder.« Es wäre allerdings ein Systemwechsel, der nicht in Hamburg vollzogen werden könnte. Hier ist der Bund gefragt. Typisch die Reaktion des rot-grünen Senats: Schönrednerei. So hält Hamburgs Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD) die Situation ohnehin für besser als die Bertelsmann-Studie behauptet. »Wir sind nur auf dem Stand von vor fünf Jahren, weil viele geflüchtete Familien neu in den Hartz-IV-Bezug gekommen sind«, sagte sie.
Soziale Spaltung war schon in der Senatsplanung für die nächsten Jahre vor Corona kein Thema.

Darüber können auch einzelne Verbesserungen wie etwa die Aufstockung der Mittel für Seniorenarbeit im Bereich der Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz um 400.000 Euro im Jahr, nicht hinwegtäuschen. Auch auf der Landesebene sind Maßnahmen gegen Kinder- und Altersarmut, die Not der alleinerziehenden Frauen, die Not der Langzeiterwerbslosen oder die immer größer werdende Wohnungsnot zwingend erforderlich. Eine solche Konzeption für die Eindämmung der sozialen Spaltung in der Stadt muss zudem eingebunden sind in eine Gesamtkonzeption für die Zukunft Hamburgs.

Was zu tun wäre

Ganz zu Recht fordert der Hamburger SOVD-Chef Wicher vom Hamburger Senat mehr Transparenz beim Thema Armut. In Hamburg sorge Armut für deutlich mehr soziale Unterschiede als im Rest Deutschlands. Das Preisniveau sei hoch, wer von Grundsicherung leben muss oder nur ein bisschen mehr hat, bekomme in der Hansestadt weniger für sein Geld als anderswo. Mehr als 18% aller Hamburger*innen seien von Armut bedroht. Am anderen Ende der sozialen Skala stünden rund 9,6%, die zu den Einkommensmillionären gehören. »Ein regelmäßiger Armuts- und Reichtumsbericht würde ein Schlaglicht auf die aktuelle soziale Lage in unserer Stadt werfen«, so Klaus Wicher.

Mit verlässlichen Daten könnte Armut in Hamburg gezielter bekämpft werden. Denn strukturschwache Stadtteile wie die Veddel, Steilshoop oder Billstedt brauchen zum Beispiel mehr und andere Förderung als reiche wie Nienstedten. »In Nienstedten leben gerade mal 0,5 Prozent der Kinder von Mindestsicherung, in Billbrook und Steilshoop ist es jedes zweite. Auch die Anzahl der Rentnerinnen und Rentner, die von Grundsicherung leben müssen, oder die, die alleinerziehend sind und viele Kinder haben, ist in den Stadtteilen sehr unterschiedlich. Sie brauchen besondere Förderung, die Stadt wäre durchaus in der Lage, sie mit einem Zuschuss zu unterstützen«, sagt Wicher.

Er ist sich sicher, dass sich die Armutslage in Hamburg durch die Corona-Pandemie verstärken wird: »Ich mache mir inzwischen große Sorgen um die Kurzarbeitenden und die vielen Selbstständigen, deren Existenz akut bedroht ist. Ich befürchte, dass auf eine große Zahl von ihnen ein sozialer Abstieg zukommt. Auf all diese Entwicklungen und Veränderungen muss die Stadt reagieren können. Ein jährlicher Armuts- und Reichtumsbericht würde dabei wertvolle Dienste leisten.«

Von alldem ist der rot-grüne Senat weit entfernt. Er hat zwar in den letzten Jahren seine bisherige Politik der Haushaltskonsolidierung (teilweise) korrigiert und hat die relativ guten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und die damit einhergehenden Steuermehreinnahmen genutzt, um mit einer deutlichen Steigerung der Ausgaben einige Fehlentwicklungen in der Stadt zu korrigieren. Das reichte aber schon vor Corona nicht aus. Beispiel Wohnungsbau. Wenn jedes Jahr 20.000 Menschen zusätzlich in die Stadt kommen, reichen die projektierten 3.000 neuen preiswerten Wohnungen nicht einmal aus, um diese Neuankömmlinge unterzubringen. Am Fehlbestand von 80.000 preiswerten Wohnungen ändert sich nichts, im Gegenteil wird er durch Wohnungen, die aus der Preisbindung fallen, nur noch größer.

Hinzu kommen die großen Probleme in der Wirtschaftsstruktur Hamburgs. Vor allem die Hamburger Hafenwirtschaft hat immense Probleme, die durch die Corona-Pandemie und ihre wirtschaftlichen Folgen noch verschärft werden. Durch die Wirtschaftskrise sind zudem weitere Leuchttürme der Hamburger Wirtschaft, wie die Luftfahrtindustrie oder der Tourismus, massiv ins Wanken geraten sind.

Die großen Probleme der Stadt, wie die immer deutlicher zutage tretende Strukturschwäche der Hamburger Wirtschaft mit ihrer einseitigen Ausrichtung auf die Hafenwirtschaft wie auch die wachsende soziale Spaltung in der Stadt sind mit der in der Corona-Pandemie praktizierten Politik nicht zu lösen. Der Senat hat zwar mit seinen großzügigen Anti-Corona-Maßnahmen viel getan, um die dramatischen Folgen der Pandemie ökonomisch und sozial abzufedern. Aber hinter diesen Maßnahmen ist kein in die Zukunft gerichteter Plan erkennbar, wie der dringend notwendige Umbau der Hamburger Wirtschaft bewältigt werden soll. In Sachen aktiver Arbeitsmarktpolitik und Kampf gegen die vielen Facetten sozialer Spaltung in der Stadt muss von einem völligen Versagen der politischen Führung der Stadt gesprochen werden.

Es kann also nicht die Rede davon sein,  dass der Senat die zur Bekämpfung der Corona-Pandemie zusätzlich aufgenommen Kredite nutzt, um die Infrastruktur nachhaltig zu verbessern, eine zukunftsorientierte Strukturpolitik anzustoßen und die brennendsten sozialen Probleme der Stadt anzugehen. Dazu gehört auch und vor allem die Förderung des Baus von preiswerten Wohnungen. Das wäre auch ein wirkungsvoller Beitrag, um den durch die Pandemie ausgelösten Konjunktureinbruch zu dämpfen. Der finanzielle Spielraum für solche Maßnahmen könnten zudem mit einer deutlichen Verbesserung des Steuervollzugs und Initiativen etwa für die Wiedereinführung der Vermögenssteuer auf Bundesebene noch vergrößert werden. Insgesamt geht es um

  1. Maßnahmen zur Eindämmung der sozialen Spaltung (deutlich verbilligte HVV-Abos und günstige Kulturangebote für Sozialleistungsbezieher*innen, kostenloses Mittagessen in Kitas etc.);
  2. um ein großzügig angelegtes Programm für den Bau preiswerter Wohnungen;
  3. um Investitionen in die öffentliche Infrastruktur, die den Vermögensverschleiß beenden;
  4. um die endgültige Beendigung des Personalabbaus im öffentlichen Dienst auch in den »nichtpriorisierten Bereichen« wie etwa in den Bezirksämtern. Vor allem die Bezirke brauchen mehr Personal, um ihre gewachsenen Verpflichtungen bewältigen zu können. Die unsinnige Beschränkung des jährlichen Wachstums der Personalkosten muss beendet werden, und auch für die Sozialunternehmen sollte diese »Kostenbremse« endlich aufgegeben werden.
  5. um, nicht zuletzt, ein Strukturprogramm für die Hamburger Wirtschaft etwa durch Stärkung bestimmter Cluster (Life Science etc.), das der Krise der Hafenwirtschaft, aber auch der Luftfahrtindustrie und des Tourismus entgegenwirkt.

 1) Dies betrifft auch und gerade den Wohnungsmarkt. Die enormen Steigerungen im letzten Jahrzehnt haben die Mieten zu einem treibenden Faktor der sozialen Spaltung gemacht. Der rot-grüne Senat, der gerne den Zuwachs beim Neubau als eigenen Leistungsausweis sieht, hat mit seiner Politik das Problem der vor allem fehlenden preiswerten Wohnungen in keiner Weise gelöst. Er weigert sich zudem hartnäckig eine Mietpreisbremse, die die Mieten beispielsweise für fünf Jahre einfriert, einzuführen.

 

 

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