25. Oktober 2011 Hasko Hüning / Gerd Siebecke: DIE LINKE beschließt Grundsatzprogramm
Wie weiter nach Erfurt?
Die Partei DIE LINKE hat mit übergroßer Mehrheit auf ihrem Erfurter Parteitag ein neues Parteiprogramm beschlossen, mit dem sie sich in der politischen Auseinandersetzung zurückmeldet und in die aktuellen Debatten um die Krise des Finanzmarktkapitalismus eingreifen will.
DIE LINKE hat im abgelaufenen Wahlzyklus an politischem Terrain verloren, in Ost wie West. Der Rückhalt bei der Wahlbevölkerung, aber auch in der aktiven Mitgliedschaft ging zurück, die Verankerung im Westen bleibt zudem ein äußerst fragiles Gebilde. Der Einzug in die Landtage von Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg gelang nicht, aber auch in Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin waren die Wahlergebnisse für die Partei enttäuschend. Während noch im Frühjahr die Atomkatastrophe in Fukushima die politische Agenda bestimmte und zum Atomausstieg verbunden mit einem zeitweiligen Hoch der grünen Partei führte (und natürlich auch als Erklärung für das schwache Abschneiden der Linkspartei herhalten musste), beherrschen jetzt erneut die Eruptionen des Finanzmarktkapitalismus in Gestalt der Euro-Krise das ökonomische und politische Geschehen im Land.
Nach einem kurzen kräftigen Aufschwung in Deutschland, dessen positive Wahrnehmung eine Zeit lang die Köpfe beherrschte, verdichten sich nicht nur in anderen Teilen Europas die fiskalpolitischen Krisenprozesse mit zunehmender Rückwirkung auf die Realökonomie und auf die Lebensverhältnisse der Menschen. Deren Beunruhigung steigt. Hinzu treten in ihrer Tragweite noch nicht überschaubare Verwicklungen in die arabische Neuordnung.
In dieser Situation hat sich DIE LINKE in Erfurt vier Jahre nach dem Zusammenschluss von PDS und WASG zur Linkspartei ein Grundsatzprogramm gegeben. Fast 97% der Delegierten stimmten nach disziplinierter Abarbeitung von zahlreichen Änderungsanträgen dem Leitantrag des Parteivorstands zu. Die Partei steht nun nicht gerade strahlend da, hat aber die verbreitete Erwartung, sich zu zerlegen, abgewehrt und ist ab jetzt auf dieser programmatischen Grundlage nicht chancenlos, eine geachtete Mitgliederpartei zu werden.
Damit ist eine Phase in der Entwicklung der Partei abgeschlossen, in der sie sich durchaus selbstkritisch über Weiterentwicklung und Korrekturen ihrer Strategie zu verständigen suchte. Der ernsthaft-entschlossene Ablauf der Parteitagsarbeit hat gezeigt, dass es den Parteimitgliedern nach 1½ Jahren Programmdiskussion durchaus nicht »gleichgültig« (Mechthild Küppers in der FAZ noch vor dem Beschluss) war, mit welcher Programmatik sich die Partei in die politischen Auseinandersetzungen des Landes einmischen und ihren Platz im politischen Kräfteverhältnis neu bestimmen will. Sie hat damit zugleich gezeigt, dass sie zu einer politischen Kursbestimmung fähig ist, die sie wieder näher an die wirklichen Probleme der Gesellschaft heranführen kann, auch in der alltäglichen Basisarbeit.
Die Kernpunkte respektive Leitideen des Programmentwurfs (Demokratisierung der Wirtschaft u.a. durch Stärkung von Genossenschaften und Belegschaftsbeteiligung, Arbeitszeitverkürzung, Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns, Abschaffung von Hartz IV, Einführung einer solidarischen BürgerInnenversicherung, Wiedereinführung der Vermögenssteuer, einen Neustart der EU mit sozialen Vorzeichen, Nichtbeteiligung an Militäreinsätzen, stattdessen Einrichtung einer zivilen Katastrophenhilfstruppe unter dem Namen »Willy-Brandt-Korps«, Bekenntnis zum Existenzrechts Israels) mit dem Ziel eines »demokratischen Sozialismus« wurden bekräftigt und teilweise präzisiert.
Zudem beschlossen die Delegierten mit Blick auf zukünftige Wahlen, dass DIE LINKE sich »an einer Regierung, die Kriege führt und Kampfeinsätze der Bundeswehr im Ausland zulässt, die Aufrüstung und Militarisierung vorantreibt, die Privatisierungen der Daseinsvorsorge oder Sozialabbau betreibt, deren Politik die Aufgabenerfüllung des öffentlichen Dienstes verschlechtert«, nicht beteiligen wird. Das Grundsatzprogramm wird jetzt allen Parteimitgliedern zur Urabstimmung vorgelegt, die bis Weihnachten abgeschlossen sein wird.
Damit wurde die Gründungsphase der Partei auch durch den Beleg der Kompromissfähigkeit und der Kraft zur Selbstverständigung formell abgeschlossen, und zwar in zwei zentralen Fragen: Festschreibung des Gewaltverzichts in der Politik und die nachhaltige politische Regulierung von Ökonomie und Sozialverhältnissen. Zu den Stärken gehört auch, dass in den nach wie vor strittigen Fragen der Dissens festgehalten wurde, mit dem Ziel diese offenen Fragen weiter zu klären. Oskar Lafontaine hat in diesem Zusammenhang Selbstbewusstsein angemahnt: »Wir brauchen den aufrechten Gang und dürfen uns nicht in die Defensive treiben lassen.«
Zu Selbstbewusstsein und offensivem Herangehen an offene und strittige Fragen gehört jedoch auch, dass die Partei jenseits aller Strömungsauseinandersetzungen und Personaldebatten vor der Herausforderung steht, wie sie sich intern und in der Auseinandersetzung mit den politischen Gegner in der Zukunft durchlässig im Sinne von anschlussfähig an die zentralen Herausforderungen aufstellen will. Die Frage »Wie weiter?« blieb allerdings mit Blick auf die zugestandene Schwierigkeit, ein gemeinsames Programm unter Respektierung des reellen Pluralismus an linken Positionen zu vereinbaren, eher im Hintergrund. Dass nun, kaum dass die Delegierten Erfurt wieder verlassen hatten, ein Teil die Vorziehung des für den kommenden Juni in Göttingen vorgesehenen Parteitag mit den Vorstandswahlen fordert, signalisiert, dass diese Schwäche auch nach der demonstrierten programmatischen Einigkeit noch nicht überwunden ist.
Zum »Wie weiter?« gehört insbesondere, dass die Partei die Kraft zur Klärung der Frage finden muss, warum und wie sie über die sozialdemokratische Idee hinaus eigenständig bleiben und zugleich kritische Sozialdemokraten mitnehmen will. Zu Recht wurde von Gregor Gysi und Oskar Lafontaine darauf hingewiesen, dass der Entwicklung innerhalb der SPD besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden muss, auch wenn dort die politische Geschichtsaufarbeitung (Abkehr von der Agenda 2010) und die Personalfragen (die Kür des zukünftigen Kanzlerkandidaten) nicht gerade in vorbildlicher demokratischer Form inszeniert werden. Durch die Lesung von zentralen Passagen des Erfurter Programms der SPD von 1891 deutlich zu machen, dass man sich in einer besonderen Tradition sieht, ist das eine. Hinzukommen muss jedoch die Analyse und Diskussion dessen, was heute die gesellschaftliche Basis für die eigene Arbeit und für einen nicht-sektiererischen Umgang mit anderen linken Kräften sein muss.
Dazu gehört weiter, sich die fortgeschrittene Destabilisierung der Lohnarbeitsgesellschaft vor Augen zu führen und die entsprechenden Herausforderungen aufzugreifen. Wer heute unten ist, wird es länger bleiben als früher. »Abwärtsmobilität« (DIW) und Auszehrung der gesellschaftlichen Mitte haben mitnichten eine begehrenswerte »Kultur der Mitte« entstehen lassen. Dies setzt sowohl dem politischen Konservatismus zur Sicherung des politischen Raumes erheblich zu, von oben wie von unten, aber auch die Sozialdemokratie gerät gehörig unter Druck, eine sozial ausgewogene Politik für ihre Wählerschaft zu formulieren. Für die Linkspartei geht es in dieser Situation darum – das wurde auf dem Erfurter Parteitag als Ziel bekräftigt –, die parlamentarische Repräsentation und die demokratische Interessenvertretung (auch in der Arbeit) eines beträchtlichen Teils der Bevölkerung, der als Verlierer der Modernisierung und Globalisierung darauf angewiesen ist, wieder herzustellen. Damit verbunden werden müsste, dass der weit über das linke Potenzial hinausreichenden Empörung bzw. Kritik am neoliberalen Umbau eine demokratische Stimme im politischen Raum zurückgegeben wird.
Die bisher nur angedeuteten Antworten – Arbeit begründet Eigentum/Gemeineigentum und ist die Grundlage auch von selbstbestimmter sozialer Emanzipation der Arbeit und Demokratie (Oskar Lafontaine) – wären auszubauen. Der mit Blick auf die aktuellen Auseinandersetzungen um die Euro-Rettung naheliegende Vorschlag von Oskar Lafontaine zur Schaffung bzw. Wiederherstellung eines öffentlich-rechtlichen Bankensektors als einen ersten Schritt, der die verschiedenen Kräfte in der Partei kurz- und mittelfristig einbinden kann, müsste präzisiert werden. Ebenso wäre – auch angesichts des in den verschiedenen »Occupy«-Bewegungen deutlich gewordenen Protestpotenzials – genauer zu analysieren, was es denn bedeutet, wenn wir in einer »Diktatur der Finanzmärkte« leben, und wie wir aus dieser Umklammerung mit nachvollziehbaren Alternativen kurz-, mittel- und langfristig herauskommen wollen. Die Partei muss, das haben zahlreiche Debattenbeiträge strömungsübergreifend betont, ihr Augenmerk weiterhin auf die sozialen Unsicherheitsfaktoren richten, die vor allem aus den fehlenden Regulierungen der Finanzmärkte und aus den aufgehäuften Vermögensansprüchen resultieren.
DIE LINKE – und das trifft natürlich vor allem auch auf die Führung zu, für die Oskar Lafontaine zu Recht anmahnte, dass ein solidarischer Umgang natürlich auch für sie zu gelten habe – muss für die nächste Phase einen eigenen Entwicklungsweg beschreiten und sich dabei aus der Dominanz der Parlaments-Fraktionen lösen. Nur so kann genügend Anerkennung und Spielraum für alle Strömungen geschaffen und ein wirklicher Pluralismus von linken Positionen gelebt werden. Die Gewinnung von Hegemoniefähigkeit im diskreditierten politischen Raum und in der Zivilgesellschaft kann und muss innerhalb der Partei von unten wachsen und darf nicht immer wieder fragil durch einige wenige Spitzenkräfte von oben und ständig aufs Neue hineingedrückt werden. Zu Recht hat Klaus Lederer in der Debatte in Erfurt darauf hingewiesen, dass vieles Neue in Sachen politischer Kultur, das mit der Parteigründung vor vier Jahren auch auf den Weg gebracht werden sollte, noch nicht eingelöst ist.
Die Partei wird nach dem Parteitag noch deutlicher links im Parteienspektrum verortet werden. Angesichts der hohen Volatilität im Parteiensystem wird es für sie mühselig werden, sich zu behaupten. Die soziale Verankerung der Partei ist zwar flächendeckend (wenn auch deutlich unterschiedlich in Ost und West), aber nicht stabil. Neue moderne soziale Schichten und andere kulturelle Milieus betreten das politische Feld. Ohne die auf dem Parteitag lautstark reklamierte Rückbindung an die »Traditionen der Arbeiterbewegung« wird es auch in Zukunft für eine linke Partei nicht gehen – soziale Gerechtigkeit bleibt ein Zukunftsthema. Es wird aber nicht ausreichen. Hier müssen sozial und symbolisch Brücken zwischen den Anforderungen veränderter Bedingungen und dem Weiterbetreiben einer breiten Sammlungsbewegung bis hin zu den »flexiblen Kreativen« gebaut werden.
Auch wenn angesichts der nach wie vor massiven medialen und politische Denunziation und Ausgrenzung die Herstellung von Kompromiss, Vertrauensbildung, Gemeinsamkeit, Stabilität und Selbstbewusstsein auf diesem Parteitag im Vordergrund stand, befremdet der durchgängige Tenor des Führungspersonals: Die LINKE ist die einzige Partei, die die richtigen Antworten hat! Die immerhin formulierte Frage, warum DIE LINKE so wenig von der deutlich sichtbaren Krise in Ökonomie und Politik profitiert, wurde nicht wirklich beantwortet. Vor diesem Hintergrund ist der Wir-haben-Recht-Gestus nicht sonderlich nützlich und wird von der Presse genüsslich herausgestellt (»Die Linkshaber-Partei« titelt die FAZ am 24.10.2011). Ein offensiver aufrechter Gang ist das eine, ein noch so oft herausgestelltes »Wir wissen alles« wird der Suche der Menschen nach Lösungen und begehbaren Wegen aus der Krise nicht gerecht.
Hasko Hüning arbeitet als Gesellschafts- und Politikwissenschaftler in Berlin, Gerd Siebecke ist Redakteur von Sozialismus in Hamburg.