21. Januar 2015 Peter Stahn: Der Arbeitsmarkt in Hessen 2015
Schwarz-grüner Schlafwagen?
Thorsten Schäfer-Gümbel, der Partei- und Fraktionsvorsitzende der SPD in Hessen, beklagt das Ausbleiben eines Politikwechsels. »Willkommen im schwarz-grünen Schlafwagen!«, kommentierte er sarkastisch. Ist die schwarz-grüne Koalition ein Zukunftsmodell für andere Bundesländer?
Die auf den ersten Blick gute Nachricht: Das Statistische Landesamt Hessen erwartet für dieses Jahr ein Wirtschaftswachstum von 1,2% und die Arbeitsagentur sagt einen stabilen Arbeitsmarkt auf einem hohen Niveau voraus. So soll die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten von 2,36 Mio. (Juni 2014) auf durchschnittlich 2,4 Mio. in diesem Jahr steigen, und die der Arbeitslosen im Jahresschnitt auf 181.000 sinken.
Nach einer kürzlich vorgestellten Studie der Goethe-Universität Frankfurt, die auf einer Befragung von 1.000 Betrieben beruht, rechneten die kleineren Betriebe in Hessen mit drei bis neun Beschäftigten mit einem besonders hohen Anstieg der Beschäftigung bis 2016. Auf diese Gruppe entfielen 37% aller Beschäftigten (FAZ vom 16.1.2015). Wie in den anderen Bundesländern, haben wir es auch in Hessen scheinbar mit einem von der relativ schwachen Konjunktur entkoppelten Beschäftigungswachstum zu tun.
Betrachtet man den Arbeitsmarkt in Hessen jedoch genauer relativiert sich das positive Bild eines stabilen Beschäftigungsaufbaus schon auf den zweiten Blick sehr stark, denn
- zum einen ist vor allem die starke Konzentration der Beschäftigung auf die Finanz- und Versicherungswirtschaft, die mit sinkenden Margen zu kämpfen hat, sehr risikoreich für die Beschäftigungsentwicklung. Seit der Finanzkrise 2008 wurden in der Finanz- und Versicherungswirtschaft immerhin rund 2.800 Arbeitsplätze abgebaut. Die größeren und großen Unternehmen mit 250 und mehr Beschäftigten in allen Branchen rechnen nach der o. g. Studie sogar mit einer stagnierenden oder in 2016 leicht rückgängigen Beschäftigung.
- Zum anderen geht die Vollzeitzeiterwerbstätigkeit in Hessen zurück. Von den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten arbeiteten im Juni lediglich 1.719.608 (72,9%) in Vollzeit. Viele der 618.809 in Teilzeit arbeitenden sozialversicherungspflichtig Beschäftigten wollen länger Arbeiten und gelten als »stille Reserve« für einen Vollzeit-Job.
Noch schlechter werden die Nachrichten, wenn man sich die Arbeits- und Einkommensverhältnisse der Beschäftigten anschaut: Nicht wenige der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten arbeiten in prekären Verhältnissen als Leiharbeiter, als Kurzarbeiter oder in Midi-Jobs (siehe die folgende Tabelle). Gut 40.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, darunter 13.434 in Vollzeit und 27.360 in Teilzeit (Mai 2014) verdienen so wenig, dass sie auf Hartz IV angewiesen sind. 52.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte waren Leiharbeiter.
Immer mehr Menschen finden nur geringfügige Beschäftigung. So mussten im Juni 2014 584.618 Menschen (gegenüber 571.034 im März 2014) einen oder mehrere Minijobs oder zusätzlich zu ihrer Erwerbstätigkeit einen Nebenjob annehmen, um halbwegs über die Runden kommen zu können.
Überhaupt hat der Niedriglohnsektor in Hessen rasant zugenommen. 2010 verdienten nach einer Studie des IAB landesweit 311.500 Beschäftigte weniger als 1.890 Euro brutto im Monat. Das entspricht einer Quote von 19,2% der Vollzeitbeschäftigten. Elf Jahre davor lag dieser Wert noch bei 14,4%.
Einer Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Gewerkschaften zufolge arbeiten Frauen auch in Hessen häufiger in schlecht bezahlten Dienstleistungsbereichen. So verdienen dort demnach 65,3% der Frauen, die im Friseurhandwerk, in der Hotellerie, in der Textilreinigung oder als Hauswirtschafterinnen arbeiten, weniger als 1.802 Euro pro Monat. Das ist die Niedriglohnschwelle für Gesamtdeutschland (vgl. FR-online vom 19.8.2013).
»Der deutliche Anstieg von Niedriglöhnen in den letzten zehn Jahren stimmt bedenklich«, sagt Frank Martin, Leiter der Regionaldirektion Hessen der Bundesagentur für Arbeit. Laut einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) bezieht ein Drittel der Frauen mit Fulltime-Job nur Niedriglohn. Bei den Vollzeitbeschäftigten unter 25 Jahren ist der Anteil mit 48,5% noch höher – obwohl Azubis bei der Studie gar nicht berücksichtigt sind. Alarmierend ist ebenfalls: Auch ArbeitnehmerInnen mit abgeschlossener Berufsausbildung und sogar mit Hochschulausbildung sind betroffen (vgl. FR vom 31.1.2012).
Mit der Einführung des Mindestlohns am 1. Januar 2015 beruhen alle Hoffnungen darauf, dass das Lohnniveau in diesem Sektor steigt. Der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann warnt zugleich: »Er ist aber nur ein erster Schritt, den enorm großen Niedriglohnsektor in Deutschland trockenzulegen« (Spiegel-online vom 8.1.2015). Er weist auch auf die vielen Ausnahmeregelungen hin, die eine Kontrolle der Einhaltung des Mindestlohns behindern.
Die Zahl der arbeitslos gemeldeten Hessen stieg von 178.300 im Jahr 2012 auf 185.600 Menschen im Jahr 2013. 2014 ist die Arbeitslosigkeit dann wieder leicht gesunken. Im Dezember 2014 waren 174.185 offiziell als arbeitslos registriert. Das entspricht einer Quote von 5,4%. Hinter der relativ niedrigen Zahl von Arbeitslosen verbergen sich jedoch erhebliche Strukturverschiebungen (siehe Tabelle).
Die Zahl der Langzeitarbeitslosen steigt kontinuierlich, ein harter Kern von Langzeitarbeitslosen ist auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr vermittelbar. Zwei Drittel der Arbeitslosen in Hessen haben keine Absicherung durch Arbeitslosengeld und erhalten Hartz IV. Nur wer seine Arbeitslosigkeit zügig beenden kann, entgeht dem Fürsorgesystem der Grundsicherung. Die Bundesregierung verspricht mal wieder Langzeitarbeitslose in »Aktivierungszentren« innerhalb der Jobcenter besser zu betreuen und bestimmten Jobsuchenden bei einem Einstieg in den ersten Arbeitsmarkt einen Begleiter als Hilfe zur Verfügung zu stellen (Süddeutsche Zeitung vom 8.1.2015).
500 Langzeitarbeitslose in Hessen dürfen sich indes Hoffnung auf eine öffentlich geförderte Beschäftigung machen. Die schwarz-grüne Landesregierung legt ein Programm auf, um schwer vermittelbaren Arbeitslosen auf Dauer einen regulären Job in öffentlicher Beschäftigung zu verschaffen. Dafür würden vier Millionen Euro in den Haushalt eingestellt. Sozialminister Stefan Grüttner (CDU) bestätigte, dass Hessen mit dem Programm »Arbeit statt Arbeitslosigkeit über Landesmittel finanzieren« wolle.
Bislang war es die CDU, die öffentlich bezahlte Arbeitsplätze für Langzeitarbeitslose abgelehnt hat. Auf Bundesebene gab es bislang keine Einigung, dass Hartz-IV-Leistungen und andere öffentliche Zuschüsse an Langzeitarbeitslose in deutlich mehr öffentlich bezahlte Arbeitsplätze hätten umgewandelt werden können. Zustimmung zu den Plänen eines Einstiegs in einen öffentlich bezahlten Arbeitsmarkt erhielt Schwarz-Grün umgehend von SPD und der Linkspartei mit der Einschränkung, dass nicht 500, sondern viele tausend solcher Arbeitsplätze erforderlich seien (vgl. FR-online vom 13.2.2015).
Es gibt zu viele Abgehängte in Hessen! Die Zahl der Hartz IV-Empfänger beträgt 415.655 (September 2014), davon sind 287.560 im erwerbsfähigen Alter. 85.098 sind erwerbsfähige Hilfebedürftige in Lohnarbeit (Mai 2014).
Fast jeder vierte arbeitslose Hartz IV-Empfänger hat keinen Schulabschluss, zwei von dreien haben keine abgeschlossene Ausbildung, darunter viele junge Erwachsene. So haben 63% aller arbeitslosen Personen im Alter zwischen 25 und unter 35 Jahren in den Jobcentern keine abgeschlossene Berufsausbildung. Bundesweit hatten 2013 1,4 Mio. BürgerInnen im Alter von 20 bis 29 Jahren weder eine abgeschlossene Berufsausbildung noch waren sie dabei eine solche zu erwerben. Das entspricht einem Anteil von 13,8% in dieser Altersgruppe.
Die von der Bundeskanzlerin vor sechs Jahren verkündete »Bildungsrepublik Deutschland« ist nicht in Sicht. Dies geht auch aus einer Untersuchung des Essener Bildungsforschers Klaus Klemm für den Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) hervor. In der Studie heißt es, die hohen Zahlen der Jugendlichen ohne Schulabschluss und der jungen Menschen ohne Berufsabschluss stellen ein zentrales Problem in unserem Bildungswesen dar. Das deutsche Bildungssystem sei – auch im internationalen Vergleich – unterfinanziert.
Der DGB fordert deshalb einen neuen Bildungsgipfel in diesem Jahr. Bund, Länder und Kommunen sollen zusammen mit den Sozialpartnern eine neue gemeinsame Bildungsstrategie vereinbaren. Das Bildungssystem produziere »zu viele Bildungsverlierer«. Diesen Menschen drohe ein Leben in prekären Verhältnissen, die meisten von ihnen würden kaum ihren eigenen Lebensunterhalt verdienen können. Es seien nicht mehr nur gute Ganztagsschulen nötig. »Wir müssen auch die zahllosen Warteschleifen im Übergang von der Schule in die Ausbildung abbauen und das Nachholen von Schul- und Berufsabschlüssen fördern« (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 7.1.2015).
Der Abbau des Sozialstaates hat auf dem Arbeitsmarkt indes seine Spuren hinterlassen. Die Aufspaltung in Arbeitslosengeld (SGBIII) und Hartz IV (SGBII) für Arbeitslose bezieht sich nicht nur auf die materielle Unterstützung und soziale Absicherung, sondern auch auf den Zugang zu arbeitsmarktpolitische Maßnahmen und damit auf Chancen auf eine nachhaltige Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt. Und jene sind ohnehin dünn gesät.
Seit 2010 reduziert die Bundesregierung die Gelder für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen bei Menschen im Hartz IV-System. Jahr für Jahr sieht der Bundeshaushalt weniger Sollausgaben für die so genannten Leistungen zur Eingliederung in Arbeit vor. Jahr für Jahr werden Menschen mit dem Gefühl der Ohnmacht ausgegrenzt.
Anstatt in Bildung zu investieren und damit erst die Voraussetzungen für einen stabilen Arbeitsmarkt zu schaffen, schreibe die Große Koalition mit dem Erreichen der schwarzen Null »haushaltspolitische Geschichte«, wie der Unionssprecher kürzlich sagte. Schwarz-Grün in Hessen hechelt diesem vermeintlichen Ideal hinterher und will »nach 50 Jahren die erste Regierung sein, die keine neue Schulden macht«.
Ministerpräsident Volker Bouffier nennt zwar als »Leitplanken« schwarz-grüner Politik die Konsolidierung der Staatsfinanzen einerseits und zusätzliche Investitionen in Bildung andrerseits (vgl. FAZ v. 14.01.2015), meint damit aber nur, dass Lehrer und Polizisten von Kürzungen ausgenommen bleiben. Wer es ernst meint, »besonders junge(n) Menschen durch gute Bildung und Ausbildung von Beginn an Chancen zur Integration zu geben« und den ersten und wichtigsten Ansatz darin sieht, »allen Jugendlichen einen Schulabschluss zu ermöglichen und denen, die eine Berufsausbildung anstreben, eine Ausbildung anzubieten« (aus dem Grünen-Wahlprogramm) muss vielmehr zusätzliche Ganztagsschulen schon von der Grundschule an schaffen und zusätzliche qualifizierte Lehrer einstellen.
Will Arbeitsmarktpolitik »neue Perspektiven für Menschen schaffen, die bisher von Erwerbsarbeit weitgehend ausgeschlossen sind« und »Menschen mit Behinderungen, Migrantinnen und Migranten, Alleinerziehende, Junge ohne Schulabschluss, Ältere, Langzeitarbeitslose und Geringqualifizierte« nicht zurücklassen, dann »muss endlich Schluss sein, mit einer der-Markt-wird-es-schon-richten-Mentalität in der Arbeitsmarktpolitik« (aus dem Grünen-Wahlprogramm).
Ob das neu aufgelegte Programm, um schwer vermittelbaren Arbeitslosen auf Dauer einen regulären Job in öffentlicher Beschäftigung zu verschaffen,»ein neues Instrument« für Hessen (Die Grünen) ist und eine neue Perspektive für den Arbeitsmarkt eröffnet, bleibt abzuwarten. Zunächst einmal bedeutet es den Einstieg in den öffentlich geförderten Arbeitsmarkt als einen ersten Schritt in die richtige Richtung.