29. Mai 2021 Manfred Goll: Eine private Wahl-Prognose zur Bundestagswahl 2021
Scheitert die LINKE an der 5%-Hürde?
In den Umfragen vom Mai 2021 zur Bundestagswahl steht DIE LINKE mehrheitlich nur noch bei 6% bis 7%. Damit geht der schon seit langer Zeit zu beobachtende Trend nach unten unvermindert weiter. Da das Wahlergebnis für DIE LINKE bei den letzten Wahlen immer unter den Umfrageergebnissen lag, ist damit zu rechnen, dass es auch diesmal so sein wird.
Außerdem ist mit den Spitzenkandidaten Janine Wissler und Dietmar Bartsch kein Aufbruch zu erwarten, der auf eine Trendwende hoffen ließe – bestenfalls ist ein bräsiges Weiter-so. Meine völlig private Wahl-Prognose lautet deshalb: 4,8% bis maximal 5,5%.
Der Negativtrend bei der LINKEN ist seit Jahren bemerkbar
Als die Partei bei der Bundestagswahl 2005 unter dem Namen DIE LINKE erstmals antrat, kam sie auf 8,7%, leicht stärker als die GRÜNEN, die auf 8,1% kamen. 2009 erreichte DIE LINKE ihr bisher bestes Ergebnis: 11,9%. Die GRÜNEN blieben mit 10,7% etwas deutlicher dahinter. 2013 kam für beide Parteien der Abschwung, von dem sie sich auch 2017 nicht erholen konnten. DIE LINKE rutschte 2013 auf 8,6%, die GRÜNEN auf 8,4%, 2017 erreichte DIE LINKE 9,2%, die GRÜNEN 8,9%.
Dass LINKE und GRÜNE sich in ihren Wahlergebnissen derart parallel entwickelten ist kein Zufall. Beide Parteien schöpfen aus demselben Wählermilieu. Oberflächlich betrachtet schien die Welt 2017 für DIE LINKE noch in Ordnung zu sein. Das lässt aber die vielen negativen Warnzeichen aus den diversen Wahlen (Europawahl, Landtags- und Kommunalwahlen) unberücksichtigt. Aus den Landtagen von Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen ist DIE LINKE in hohem Bogen rausgeflogen und bis heute ohne die geringste Chance auf einen Wiedereinzug. In Hessen vegetiert sie auf Landesebene seit Jahren knapp über der 5%-Hürde. Im Osten verliert sie massiv Wähler:innen an andere Parteien, insbesondere an die AfD, aber neuerdings auch an die GRÜNEN(!), die sich dort bisher schwertaten. In den anderen Bundesländern bleibt sie regelmäßig weit unter der 5%-Grenze, 16 Jahre nach der Gründung! Lediglich im Saarland und in Berlin, Hamburg und Bremen kann sie sich unter den besonderen soziologischen Bedingungen dieser Länder einigermaßen halten, eine Erfolgsgeschichte ist das aber auch nicht.
Sind diese negativen Entwicklungen für niemand in der Partei Anlass gewesen, Alarm zu schlagen und Änderungen einzufordern, im Bundesvorstand oder auch in der Mitgliedschaft? Anscheinend nicht. Im Gegenteil. Bernd Riexinger verteidigt dieses Versagen in seinem Beitrag »DIE LINKE vor den Bundestagswahlen« (Zeitschrift Sozialismus.de, Heft 5/2021) mit den entlarvenden Worten: »Auch die Behauptung, dass DIE LINKE deutlich an Rückhalt verloren hat, ist schon etwas abenteuerlich. Sie ist letztes Jahr im März mit Umfragen zwischen 8 und 9% in die Pandemie reingegangen und steht heute zwischen 7 und 9%. Wer den Blick auf die europäischen Länder weitet, stellt schnell fest, dass sie damit zu den stabilsten und erfolgreichsten Parteien links von der Sozialdemokratie gehört. Es gelingt in den meisten Ländern deutlich weniger gut, eine sozialistische Partei zu etablieren als in Deutschland.« Mit anderen Worten: Seht her, wie gut wir sind. Kein Anlass zur Sorge, kein Anlass für veränderte Strategien? Nein, alles Bestens! Ja, die Fähigkeit sich in die eigene Tasche zu lügen und sich eine Welt zu zimmern, die den eigenen Wunschvorstellungen entspricht, beherrschte DIE LINKE schon immer gut. Realität ist unbequem und deshalb nicht wichtig.
Sahra Wagenknecht hat in ihrem neuen Buch »Die Selbstgerechten« das Thema auf ihre Weise, nicht weniger unrealistisch, aufgegriffen. Die von ihr erfundene Lifestyle-Linke ist, ihrer Meinung nach, das große Übel der LINKEN. In einem Interview mit der NZZ vom 14.4.21 stellt sie fest (zitiert nach Sozialismus.de, Heft 5/2021, »Feldzug gegen den linksgrünen Zeitgeist«): »In einer Demokratie muss man zur Grundlage machen, was die Menschen wollen, und nicht, was einige hippe Weltbürger schön finden.« Fragt sich nur, warum hält sie sich selbst nicht daran, und welche Menschen, deren Wollen man beachten muss, meint Wagenknecht? Sind das jene, die tatsächlich DIE LINKE wählen und die – das ist ein Unterschied – ihre Mitglieder sind? Oder sind es jene, von denen Wagenknecht annimmt, dass sie DIE LINKE in realistischer Erkenntnis ihrer sozialen Situation wählen müssten? Eher letztere. »Genau besehen«, führt Wagenknecht in ihrem Buch aus, »sind die Werte und Gerechtigkeitsvorstellungen, die die Mehrheit der Bevölkerung verinnerlicht hat, insbesondere die Arbeiter, die einfachen Servicebeschäftigten und die klassische Mittelschicht, nicht nur konservativ, sondern originär links.« Originär links, also nicht nur vorgegeben, und konservativ ist also ein und dasselbe? Da muss man an sich halten, um nicht unwillkürlich mit dem Finger an die Stirn zu tippen. In was für einer Welt, fragt man sich, leben Wagenknecht und Teile der LINKEN, in der solche abwegigen Ansichten entstehen und ernsthaft zur Grundlage ihres Denkens werden?
Unabsichtlich deckt Wagenknecht mit ihrer Streitschrift auf, wie fahrlässig und selbstherrlich, fern der Realität, in der LINKEN Gesellschaftsanalyse betrieben wird, wenn sie denn überhaupt betrieben und nicht einfach freihändig, nach Gutdünken, erfunden wird. In dieser Hinsicht ist Wagenknecht in guter Gesellschaft. Weder der Bundesvorstand noch die in der Partei den Ton angebenden Strömungen – Antikapitalistische Linke, Kommunistische Plattform, Sozialistische Linke, oder das Forum demokratischer Sozialismus und was es da noch so alles gibt – machen eine Ausnahme. Keine andere Partei ist derart ahnungslos, wer ihre Wähler:innen bzw. wer ihre Mitglieder sind, wie DIE LINKE. Und es interessiert offensichtlich auch niemand. Man hat ja sein eigenes Weltbild, das einzig richtige, selbstverständlich.
Wagenknechts unqualifizierter Frontalangriff auf die Lifestyle-Linke trifft dennoch eine wichtige reale Struktur in der deutschen Gesellschaft, die für linke Parteien von entscheidender Bedeutung ist. In der im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung von TNS-Infratest 2006 erstmals erarbeiteten Wählertypologie, waren zwei von neun Milieus für DIE LINKE von großer Bedeutung waren: die Kritische Bildungselite und das Abgehängte Prekariat. Die Kritische Bildungselite war mit 9% Bevölkerungsanteil zwar eines der kleineren Milieus, für die linken Parteien SPD, GRÜNE, LINKE, aber das entscheidende. 2006 betrug der Anteil der GRÜNEN an diesem Segment 28%, der der SPD 23% und auf die LINKE entfielen 20%. Bei der LINKEN war die Kritische Bildungselite schon damals das zweitgrößte Wählersegment. Größtes Milieu war bei der Linken, mit einem Anteil von 28%, das Abgehängte Prekariat und mit 16% folgte die bedrohte Arbeitnehmermitte. In allen anderen Milieus blieb DIE LINKE bei einem Anteil von 2-9%. Beim Abgehängten Prekariat folgte der LINKEN mit großem Abstand die CDU mit 14% und die SPD mit 13%.
Die Kritische Bildungselite ist deshalb für SPD, GRÜNE und LINKE so entscheidend, um nur die wichtigsten Kriterien zu nennen, weil sie jung, gut gebildet, politisch engagiert ist, den Gewerkschaften und der Idee des Sozialismus offen gegenübersteht, und einen sehr hohen Anteil an Multiplikatoren aufweist. Darüber hinaus ist die Kritische Bildungselite – der Name wurde überlegt gewählt und muss wörtlich genommen werden - vom gegenwärtigen politischen System in Deutschland überzeugt, befürwortet es ausdrücklich und ebenso die Europäische Union. Und sie ist kritisch und intelligent, und das am weitesten links positionierte Milieu in der deutschen Gesellschaft. Es ist so etwas wie die zukünftige politische Führungsschicht. Wer es für sich hat, kann Wahlen gewinnen.
Als die Typologie 2017, diesmal von der Otto-Brenner-Stiftung, neu aufgelegt wurde, ergaben sich deutliche Verschiebungen in der Milieustruktur. Einige Milieus sind weggefallen, andere entstanden neu. Innerhalb der Kritischen Bildungselite ist DIE LINKE mit einem Anteil von 31% unerwartet zur größten Gruppe geworden. Die SPD hat einen Anteil von 25% und die GRÜNEN kommen nur noch auf 18%. Für DIE LINKE ist die Kritische Bildungselite damit auch zur größten Wählergruppe geworden. Das hat zur Folge: Die LINKE gewinnt oder verliert Wahlen mit dieser Wählergruppe der Kritischen Bildungselite. Das Abgehängte Prekariat, an dem DIE LINKE 2006 noch einen Anteil von 28% hatte, ist auf 9% gefallen. Nutznießer ist die AfD, deren Anteil an diesem Segment jetzt einsame 39% beträgt. Das Abgehängte Prekariat ist eine mit großer Mehrheit in den Ost-Bundesländern beheimatetes Milieu, das nie linken Überzeugungen anhing und, als die AfD auf den Plan trat, sofort zu ihr wechselte. Zu der Zeit hielt sich DIE LINKE noch für eine Volkspartei Ost, was sie nie war. Hätte DIE LINKE die Motivation dieser Wählergruppe besser erkundet, wäre ihr dieser Irrtum erspart geblieben.
Aus der psychologischen Struktur der Kritischen Bildungselite ergibt sich ein besonderes Problem für DIE LINKE, mit dem nicht nur Sarah Wagenknecht ihre Schwierigkeiten hat. Es entspricht so gar nicht dem Bild, das sich die LINKE von sich und ihren Wähler:innen macht. Man kann das Problem als das doppelte Missverständnis bezeichnen. So fern, wie DIE LINKE dem Alltagsleben der arbeitenden Bevölkerung ist, so fern ist die Kritische Bildungselite dem realen politischen Leben in den Parteien, besonders dem in der LINKEN, das noch einmal deutlich anders, und keinesfalls positiv anders ist, als das in den übrigen Parteien. Die Angehörigen der Kritischen Bildungselite schließen von sich auf DIE LINKE und nehmen an, die Mitglieder der LINKEN hätten ein ebenso positives Weltbild wie sie. Umgekehrt glauben die Mitglieder der LINKEN, diese Kritische Bildungselite müsse doch so sein wie sie selbst, denn sonst hätten sie doch den Weg zu dieser Partei nicht gefunden. Wenn beide Gruppen aufeinandertreffen, ist der Frust groß und die neuen Mitglieder dann auch bald enttäuscht wieder weg (so erklären sich auch die stagnierenden Mitgliederzahlen). Während die GRÜNEN einen Mitgliederboom erleben, stagnieren die Mitgliederzahlen der LINKEN. Dass DIE LINKE so ganz anders ist, als sich die Kritische Bildungselite eine linke Partei vorstellt, dass die Mitglieder der LINKEN eben nicht europafreundlich sind, dem demokratischen System in Deutschland und seinen Institutionen eben nicht befürwortend, sondern kritisch bis ablehnend gegenüberstehen etc., und andererseits oft keine Gelegenheit auslassen, um ihre fatale, kritiklose, sentimentale emotionale Nähe zu den verblichenen Inhalten des einst angeblich real existierenden Sozialismus auszudrücken, ist ein Schock für sie und dämpft ihre Sympathie für DIE LINKE erheblich.
Aber davon mal abgesehen: Ist sonst also alles in bester Ordnung? DIE LINKE wichtigste Kraft in einer für die politische Entwicklung Deutschlands maßgebenden Gesellschaftsformation? Mitnichten! Wer die aktuellen Studien kennt, weiß, dass DIE LINKE meilenweit davon entfernt ist, eine politisch wirksame Kraft zu sein. Die hier zitierten Ergebnisse der Wählertypologie stammen aus dem Jahre 2017. Inzwischen ist politisch viel geschehen. Mit der Bundestagswahl in diesem Jahr werden sich weitere grundlegende Verschiebungen in den Kräfteverhältnissen der Parteien ergeben, die für die nächsten Jahrzehnte entscheidend sind. Wer bei dieser Wahl verliert, hat auf sehr lange Zeit, und möglicherweise auch für immer, verloren. Riexingers Hinweis auf das Schicksal sozialistischer Parteien anderer Länder ist bedenkenswert. DIE LINKE ist dagegen nicht gefeit.
Die auffällige parallele Stimmenentwicklung bei den Bundestagswahlergebnissen von LINKE und GRÜNE in der Vergangenheit ist anscheinend niemand aufgefallen. Von 2005 bis 2017 verliefen die Ergebnislinien parallel, wobei die LINKE immer einen minimalen Vorsprung vor den GRÜNEN hatte. Dies war schon ein erster Hinweis auf die innige Verflechtung von GRÜNEN- und LINKEN-Wähler:innen. Auch der Rückschlag 2013 und die Stagnation 2017 erfolgten bei beiden Parteien simultan. Die seitherige rasante Entwicklung der GRÜNEN geht, so darf vermutet werden, wesentlich auf die inzwischen fast vollständige Übernahme des Milieus der Kritischen Bildungselite zurück. Darüber hinaus dürften die GRÜNEN auch aus dem liberal bis gemäßigt konservativen Lager Stimmen dazu geholt haben, in dem sie traditionell immer schon gut verankert waren. Wie innig die Wählergruppen von GRÜNEN und LINKEN ineinander verwoben sind, ließ sich auch in einer Reihe anderer Wahlergebnisse festmachen. Beispielsweise an denen der Bezirksversammlungswahlen in Hamburg. Die LINKE erreichte ihre besten Wahlergebnisse 2011 und 2014 ausnahmslos in den Hochburgen der GRÜNEN (siehe Abbildung).
Solche Entwicklungen ließen sich überall in Deutschland beobachten. Fiel das außer Wagenknecht niemand in der LINKEN auf? Kam niemand auf die Idee, nachzufragen, was das für DIE LINKE strategisch zu bedeuten hat? Noch deutlicher wird die Überschneidung zwischen LINKEN- und GRÜNEN-Wählern, wenn man sich die Stimmverteilung bei Wahlen, in denen Kumulieren und Panaschieren erlaubt ist, anschaut. Bei der Bürgerschaftswahl 2020 in Hamburg enthielten 66,6% der in die Auswertung einbezogenen Stimmzettel bei der Landesliste(!), die mindestens eine Stimme für DIE LINKE enthielten, auch mindestens eine Stimme für die GRÜNEN. Gegenüber 2015 eine Steigerung um sage und schreibe 15,9%-Punkten. Bei den Wahlkreislisten enthielten sogar 74% der Stimmzettel der LINKEN auch eine Stimme für die GRÜNEN, eine Steigerung von 16,2%-Punkten.
Nicht ganz so hohe Überschneidungen gab es zur SPD: 40,2% und 41,9%. Aus diesen Stimmensplittings ergibt sich für einen nicht unbeträchtlichen Teil der Wähler:innen eine Nähe der LINKEN-, GRÜNEN- und SPD-Wähler:innen zueinander, wie sie größer nicht denkbar ist. Ein sehr starkes Indiz dafür, dass es sich auch in der Gesamtwählerschaft der drei Parteien ähnlich verhält. Und wieder stellt sich die Frage: Ist dieser Sachverhalt niemand in der LINKEN aufgefallen? Hat niemand Schlussfolgerungen daraus gezogen und hat niemand die Frage nach Konsequenzen daraus gestellt?
DIE LINKE hatte ihre Chance – und hat sie vertan
Aus den hier dargestellten Verhältnissen ergibt sich, dass auch die LINKE eine reale Chance hatte, einen ähnlichen Aufschwung wie die GRÜNEN zu nehmen. Sicher, die GRÜNEN profitierten von der unerwarteten Dynamik, die die Klimafrage in der Bevölkerung freisetzte. Und sie waren clever genug, diese für sich zu nutzen. Aber DIE LINKE war von Anfang an bei den Bundestagswahlen gleichauf mit den GRÜNEN. Sie hätte mitziehen können, es waren schließlich dieselben Wähler:innen und Sympathisant:innen, die beide Parteien trugen. Diese Wähler:innen machen ihr Kreuz entweder bei den GRÜNEN, der LINKEN oder der SPD. Wo sie ihr Kreuz derzeit bevorzugt machen werden, ist nicht zweifelhaft. Bei der LINKEN jedenfalls nicht.
Gegenüber den GRÜNEN hätte DIE LINKE zunächst sogar den Vorteil gehabt, über die realistischeren Konzepte für den Wirtschaftsumbau zu verfügen. Aber auch in dieser Hinsicht haben die GRÜNEN mit ihrem Green New Deal DIE LINKE inzwischen ins Abseits gestellt.
Eine Chance hat DIE LINKE noch, wenn sie denn im Bundestag bleibt. Auch die GRÜNEN können sich nicht auf ihrem Green New Deal ausruhen. Wenn die naive Begeisterung für Friday for Future erst einmal verflogen ist und, angesichts der dicken Bretter, die gebohrt werden müssen, und die unvermeidliche Auseinandersetzung um die richtige Umsetzung der notwendigen Maßnahmen beginnt und ihren Frust verbreitet, werden auch die GRÜNEN wieder auf dem Boden der Realität ankommen. Das wäre dann auch auf absehbare Zeit die letzte Chance der LINKEN, hier mit realistischen Konzepten aufzuwarten, diese im Bewusstsein der Gesellschaft zu verankern und wieder Fuß zu fassen. Das dazu notwendige intelligente Bevölkerungspotential hatte sie schon auf ihrer Seite, sie hätte es nur erkennen und erschließen müssen.
Noch hat sie die Chance es wiederzugewinnen. Dazu muss nicht erst der Kapitalismus besiegt werden. Realistische zielführende Wege im Kapitalismus reichen dafür völlig aus, zudem da absehbar ist, dass der Kapitalismus auch noch das 21. Jahrhundert bestimmen wird. Aber in der Erarbeitung und Durchsetzung realistischer Konzepte war DIE LINKE noch nie gut und so bleibt es wahrscheinlich dabei, dass die anderen die Konzepte erarbeiten und DIE LINKE brav hinterher dackelt, und allenfalls besserwisserisch die Schwachpunkte der Konzepte aufzeigt, oder, was besonders auf lokaler Ebene beliebt ist, sich an den Aktionen der anderen beteiligt. So gewinnt man kein Profil und keine Wähler*innen. Das sind die »Strategien« der Verlierer. Um im 21. Jahrhundert als linke Partei zu überleben, muss man mehr bieten als pseudosozialistische Phrasen.
Wagenknecht behauptet, DIE LINKE habe die Entwicklung hin zur Kritischen Bildungselite, die in etwa das verkörpert, was sie als Lifestyle Linke diffamiert, bewusst angestrebt und die Arbeiterschaft, also z.B. das abgehängte Prekariat, vernachlässigt und der AfD überlassen. Wer DIE LINKE kennt, weiß, dass das kompletter Unsinn ist. Um derart zielgerichtet zu handeln, wie Wagenknecht das der LINKEN unterstellt, müsste DIE LINKE über ein professionelles Politmanagement verfügen, das realistische Gesellschaftsanalysen, Zielsetzungen und Strategien erarbeiten und effektiv umsetzen kann, inklusive überzeugender Kommunikations- und Werbestrategien.
Das aber konnte und kann DIE LINKE nicht, weil sie weder über das dafür notwendige fachlich gebildete Personal noch über die Erkenntnis verfügt – was schlimmer ist –, dass diese Analysen und Konzepte unabdingbare Voraussetzungen sind, um Wahlen zu gewinnen und als Partei erfolgreich zu sein. Noch nicht einmal eine gute Werbeagentur, die ihr Handwerk beherrscht, ist sie fähig zu beauftragen. Folglich verläuft die Entwicklung der LINKEN auch weiterhin zufällig und je nach der Lautstärke der jeweiligen Strömungen, mit der diese ihre Weltsicht in der Partei durchsetzen. Wagenknechts mit brachialer Gewalt zusammengezimmerte Fehlanalyse ist ein folgerichtiges Ergebnis dieser Verhältnisse.
Die Bundestagswahl ist für DIE LINKE schon verloren.
Bis zur Bundestagswahl sind es noch etwas mehr als 130 Tage. Je aktueller die Umfrageergebnisse sind, desto mehr nähern sie sich für DIE LINKE der 6%-Marke. Das zweistellige Ergebnis, von dem einige in der Partei vollmundig schwadronieren, ist weit weg. Zweistellig war DIE LINKE bei Bundestagswahlen nur einmal, 2009 mit 11,9%. In dem Zustand, in dem DIE LINKE heute ist, ist sie chancenlos.
Um jetzt noch etwas Positives für die Bundestagswahl zu erreichen, ist kein umfangreiches und bis ins Detail ausgearbeitetes Wahlprogramm nötig, das ohnehin schon Altpapier ist, bevor es überhaupt beschlossen ist, sondern es reicht ein DIN-A4-Blatt auf dem ungeschnörkelt die zehn wichtigsten Forderungen der Wähler:innen, nicht das, was die Partei dafür hält, das ist ein großer Unterschied, aufgeführt sind und mit großem Medienduck in die Öffentlichkeit gebracht werden. Jetzt, nicht erst im Wahlkampf. Denn jetzt fällt die Wahlentscheidung, nicht im Wahlkampf. Schafft DIE LINKE das? Vermutlich nicht. Bisher ist ihr auch ein guter Wahlkampf noch nie gelungen.
Wer etwas verändern will, muss aufzeigen, wie er das erreichen will. Das wichtigste, naheliegendste, selbstverständlichste Ziel ist dafür in einer parlamentarischen Demokratie die Regierungsbeteiligung. Ohne Regierungsbeteiligung ist nichts zu erreichen. Folglich haben alle Parteien, von der AfD bis zur FDP, ihren Anspruch auf Regierungsbeteiligung unmissverständlich geltend gemacht, bis eben auf DIE LINKE. Die Spitzenkandidatin Wissler hat im Gegenteil ihre deutliche Skepsis zur Regierungsbeteiligung zum Ausdruck gebracht. Warum soll man dann noch diese Partei wählen? So ungeschickt kann sich nur DIE LINKE verhalten. Das kostet logischerweise erneut Stimmen, und zwar nicht zu knapp. Das ist besonders fatal in einer historisch bedeutsamen Wahl wie der kommenden, in der es um die Weichenstellung für die Politik der nächsten Jahrzehnte geht.
Wissler scheint auch ihre Aufgaben nicht zu kennen. Man hat den Eindruck, sie kann nicht zwischen privater und offizieller Meinung trennen, und von Taktik und Wahlkampfstrategie scheint sie wenig Ahnung zu haben. Ihre Feststellung, ohne Not in einem Zeitungsinterview geäußert, die NATO sei ein Kriegsbündnis, kann sie in privatem Kreis und als einfache Abgeordnete als ihre persönliche Meinung äußern, aber nicht öffentlich als Vorsitzende und Spitzenkandidatin und als offizielles Statement der Partei, auch noch im Wahlkampf. Das ist, wohlwollend ausgedrückt, extrem unklug und wird sie in den nächsten Monaten noch häufig beschäftigen. Statt die Zeit zur Darlegung wichtiger aktueller Forderungen nutzen zu können, wird sie über solche, die Wahl garantiert nicht entscheidende Nebensächlichkeiten, diskutieren müssen.
Robert Habeck ist ein gerissener Hund und eine solche Steilvorlage, wie sie ihm Wissler bietet, lässt er sich selbstverständlich nicht entgehen. Wenn er in den Zeitungen der Funke-Mediengruppe treuherzig versichert, er schließe Rot-Rot-Grün nicht aus, fordere aber von der Linken ein Bekenntnis zur NATO und dazu noch anmerkt, DIE LINKE müsse »in besonderem Maße beweisen, dass sie regierungsfähig und bereit ist, für dieses Land Verantwortung zu übernehmen« (klingt wie das Statement eines CDU-Generalsekretärs), dann ist er seinem Ziel, genau das zu verhindern, schon ein großes Stück nähergekommen. Er weiß selbstverständlich ganz genau, dass eine Kandidatin wie Wissler weder fähig noch willens ist, auch eine noch so gut verklausulierte Stellungnahme, die das Verhältnis zur NATO als derzeit nicht veränderbar akzeptiert, abgeben kann.
So hat man eine wunderbare Möglichkeit geschaffen, wann immer es im Wahlkampf passt, auf DIE LINKE einzuprügeln. Eilfertig greift dann auch die WELT das Thema auf und räumt ihm einen prominenten Redaktionsplatz ein. Jede dieser Diskussionen kostet DIE LINKE Stimmen. Je schlechter DIE LINKE abschneidet, desto besser für die GRÜNEN und die CDU/CSU, oder, wenn es denn sein muss, für Grün, Rot, Schwarz oder auch Gelb. Der Alptraum für Habeck und Scholz, mit der LINKEN in einer Koalition sitzen zu müssen, wird immer unwahrscheinlicher. Und klammheimlich freuen sich auch in der LINKEN nicht wenige darüber, die schon bei der Vorstellung, mit der SPD kooperieren zu müssen, Pickel bekommen. Lieber auf ewig in der Opposition sein, als realistisch und verantwortlich Politik zu gestalten.
Leider hat Wissler, anstatt wenigstens den Schaden ihrer ungeschickten Äußerung professionell zu begrenzen, sich dazu hinreißen lassen, mit weiteren Ausführungen in den Zeitungen der Funke-Mediengruppe ihre Angriffsflächen noch zu verbreitern, die die WELT danach selbstverständlich genüsslich breittrat. Ein gefundenes Fressen für die Profis in den anderen Parteien und den gegnerischen Medien. Da müssen die Sektkorken geflogen sein. Mit ihrem unprofessionellen Verhalten hat Wissler deutlich gemacht, dass sie das Geschäft mit den politischen Statements nicht beherrscht und leicht vorgeführt werden kann. Das wissen die Profis jetzt und werden es noch gehörig ausnutzen. Wenn Wissler nicht fähig ist, publizistische Fallen zu erkennen und elegant abzublocken, ist sie fehl am Platze. Und wenn sie selbst das Metier nicht beherrscht, wieso berät sie niemand, warum nimmt sie sich keinen Coach, wie jeder mittlere Manager in der Wirtschaft? Oder auch einen gewieften Pressesprecher, der in solchen Fällen den Telefonhörer in die Hand nimmt und die Verantwortlichen in den Medien zur Rede stellt, wie es in anderen Parteien üblich ist? Das wirkt durchaus. Noch ein paar solcher Fehler und DIE LINKE ist locker unter 5%.
Im nächsten Bundestag werden auf Grund der gesetzlichen Änderungen in jedem Fall weniger Abgeordnete sitzen. Auch in der LINKEN werden viele Abgeordnete ihre Sitze verlieren. Bis auf einige wenige ist das kein Verlust. Um es unmissverständlich und deutlich zu sagen: Ob diese Abgeordneten in den letzten Jahren im Bundestag saßen, oder in Hamburg-Barmbek die Linde rauschte, machte keinen Unterschied. Fabio de Masi, einer der wenigen, der einen Unterschied machte und zeigte, wie man sich auch als Einzelner, zunächst im Europa-Parlament und dann im Bundestag, mit qualifizierter Arbeit einen Namen macht und dafür Anerkennung findet, selbst beim politischen Gegner, musste dafür auch noch Häme und Anfeindung in der LINKEN einstecken. Was er von der LINKEN hält, hat er zum Abschied so formuliert:
- zu abgehoben,
- zu moralisierend,
- zu weit weg von den Menschen, die ihr Geld mit ihrer Hände Arbeit verdienen.
Das sitzt. Für eine linke Partei ist das ein vernichtendes Urteil. Ich hätte es noch schärfer formuliert.
Individueller Erfolg ist etwas, mit dem DIE LINKE überhaupt nicht umgehen kann. Auch Bodo Ramelow kann ein Lied davon singen. Als einziger Ministerpräsident der LINKEN, der sich unter schwierigsten politischen Bedingungen durchsetzen kann und von der Bevölkerung dafür mit gutem Stimmergebnis bestätigt wird, wird er von beträchtlichen Teilen der Partei abgelehnt. Jede andere Partei würde ihn für seine Erfolge feiern und als Beispiel für ihre erfolgreiche Politik vorweisen und nachhaltig unterstützen, um davon zu profitieren. Nicht so DIE LINKE. Stattdessen wird er totgeschwiegen und als »Sozialdemokrat«, anscheinend eines der schlimmsten Schimpfworte unter »Linken«, verunglimpft. Ein Hamburger Genosse, der sich besonders eifrig auf facebook verbreitet, meinte gar: »Bodo Ramelow ist nun gewiss nicht das, was ich mir unter einem sozialistischen Ministerpräsidenten vorstelle.«
Wie bitte soll sich denn ein »sozialistischer« Ministerpräsident darstellen? Reicht es nicht, dass er für seine »sozialistische« Partei überzeugende Wahlerfolge einfährt? Seine Partei zur stärksten Fraktion im Landesparlament macht, etwas erreicht, was kein anderer Politiker der LINKEN vor ihm auch nur annähernd geschafft hat? Man ahnt, was dem Hamburger Genossen fehlt: das pseudosozialistische Vokabular und »linke« Taten. Ob solche »linke Taten« in einer Koalition möglich sind, und ob die gesetzlichen Bestimmungen einem Ministerpräsidenten dazu überhaupt den Raum lassen, beispielsweise bei Abschiebungen von Asylanten, wen interessieren denn solche Kinkerlitzchen, wenn es um »sozialistische« Gesinnung, nein nicht Politik, geht. Denn dass die unspektakuläre, kleinteilige, alltägliche politische Arbeit die Wirklichkeit schafft und nicht die Phrasendrescherei, ist vielen in der LINKEN völlig fremd.
Auch der Wahlkampf rettet DIE LINKE nicht
Eine weit verbreitete Meinung, nicht nur bei der LINKEN, ist: Wenn wir jetzt einen überzeugenden Wahlkampf führen, dann werden wir uns behaupten. Schön, wenn es so einfach wäre.
Das Meinungsforschungsinstitut Infratest Dimap führt seit Jahrzehnten bei jeder Wahl eine Nachwahlumfrage durch. Eine Frage ermittelt den Zeitpunkt der Wahlentscheidung. Seit Jahrzehnten(!) ergibt die Umfrage, dass zum Zeitpunkt des Beginns des Wahlkampfes, sechs Wochen vor der Wahl, je nachdem wie wichtig die Wahl ist, zwischen 50% und 70% der Wähler:innen ihre Entscheidung längst getroffen haben. Der Wahlkampf kann also nicht mehr viel bewirken. Auch diejenigen, die vor der Wahl noch unentschieden sind, sind vorentschieden. Unbeschriebene Blätter gibt es nicht. Ein unentschlossener CDU-Wähler wird, wenn er bei der Stimmabgabe die Partei wechselt, wahrscheinlich sein Kreuz bei der FDP oder SPD machen, kaum bei der LINKEN. Somit können mit dem Wahlkampf hauptsächlich nur noch die eigenen Mitglieder und Sympathisanten zur Stimmabgabe mobilisiert werden. Ob das den Wahlkampfstrategen klar ist? Vermutlich nicht.
Wahlentscheidungen für eine Partei entwickeln sich sehr langsam, oft über Jahre hinweg. Ist eine Wahlentscheidung erst einmal gefallen, hat sie oft lange Bestand. Das heißt, Wahlkampf muss eigentlich permanent sein und sehr frühzeitig beginnen, wenn er wirken soll. Wie gesagt, dieser Sachverhalt ist seit Jahrzehnten bekannt. Wenn die Parteien ihn berücksichtigten, könnten sie viel Geld sparen und dennoch wirksamer werben. Aber niemand interessiert das. Auch die Profis nicht. Wahrscheinlich wird mit dem Wahlkampf zu viel Geld verdient, als dass man die üblichen lukrativen Methoden in Frage stellt. Und weil die meisten Wahlkämpfer:innen mit dem Wahlkampf viel zu viele positive emotionale Gefühle verbinden, um offen für nüchterne Analysen zu sein, bleibt halt alles, wie es ist. Wir haben gekämpft und gewonnen, oder verloren, heißt es in der Wahlnacht. Aber Wahlen sind kein Fußballspiel, bei dem die emotionale Unterstützung der Fans Ergebnisse verändern kann. Wenigstens die Strategen sollten das wissen und berücksichtigen.
Schaut man allerdings in die USA, könnte man meinen, dort laufe es bei Wahlen tatsächlich anders. Aber bei genauem Hinsehen, zeigt sich, auch dort sind die langfristigen Entwicklungen die ausschlaggebenden. Figuren wie Trump haben nur einen feineren Instinkt für Entwicklungen und sind gerissener als andere, die Chancen dieser Entwicklungen für ihre Zwecke auszunutzen.
Nachtrag
Die folgende Tabelle zeigt die Umfrageergebnisse von acht Instituten aus dem Mai 2021. In der oberen Zeile ist der gewichtete Durchschnitt der Umfragen ausgewiesen, also der Durchschnitt unter Berücksichtigung der jeweiligen Zahl der Befragten.
Danach kommt DIE LINKE auf ein voraussichtliches Wahlergebnis von 6,7%. Die Abweichung dieses Durchschnittswertes vom tatsächlichen Wahlergebnis lag bei der Bundestagswahl 2017 bei 1,57 Prozentpunkten. Wird diese Schwankungsbreite zugrunde gelegt, könnte das Ergebnis derzeit für DIE LINKE auch bei 5,13 oder 8,27% liegen (zum Vergleich: das Bundestagswahlergebnis 2017 betrug 9,2%). Der Trend der Institute geht für DIE LINKE allerdings einheitlich nach unten, so dass zum jetzigen Zeitpunkt ein Ergebnis bei 6% am wahrscheinlichsten ist. Das würde für DIE LINKE 43 Sitze im Bundestag ergeben, ohne Berücksichtigung von Ausgleichsmandaten, ein Verlust von 26 Sitzen.
Vereinzelt werden auch Prognosen zur Bundestagswahl 2021 für verschiedene Bundesländer veröffentlicht. Danach käme die LINKE aktuell in Nordrhein-Westfalen auf 4% = minus 2% zur vorigen Umfrage (FORSA 19.5.21 bzw. 14.4.21), in Bayern ebenfalls auf 4% = minus 1% zur vorigen Umfrage (FORSA) und in Mecklenburg-Vorpommern auf 12% = minus 4% zur vorigen Umfrage (Infratest DIMAP 20.5.21 bzw. FORSA 21.1.21).
Ein positiver Trend ist für DIE LINKE nirgends zu beobachten.
(Der Text wurde abgeschlossen am 25.5.2021