8. Juli 2017 Redaktion Sozialismus: Ergebnisse des G20-Gipfel in Hamburg
Kompromisse – Massenproteste – militante Krawalle
Die Staats- und Regierungschefs der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer trafen sich zum Gipfel in Hamburg. Zehntausende Kapitalismuskritiker haben parallel zu den Beratungsrunden in vielfältigen Formen ihren Protest gegen die politischen Inhalte ausgedrückt.
Im Zusammenhang dieser kritischen Aktionen kam es in der Hansestadt auch zu militanten Ausbrüchen: Neben zahlreichen gewaltfreien Demonstrationen gab es unkontrollierte Gewaltaktionen und mehr oder minder gewaltsame Auseinandersetzungen mit der Polizei, die in Überfälle auch auf zivilgesellschaftliche Strukturen (Geschäfte, Bankautomaten, Haltestellen des ÖPVNs, PKWs von Privatpersonen) umschlugen.
Die Gruppe der G-20-Staaten ist im Zuge der letzten Krisen-Jahrzehnte zu einer einflussreichen politischen Clearingrunde der Weltwirtschaft aufgestiegen. Die beteiligten Regierungen sehen diese Institution als das »zentrale Forum zur internationalen Zusammenarbeit in Finanz- und Wirtschaftsfragen«.
Dieses Forum hat zweifelsohne Gewicht: Die vertretenen Industrie- und Schwellenländer repräsentieren zwei Drittel der Weltbevölkerung, vier Fünftel der globalen Wirtschaftsleistung und drei Viertel des Welthandels. Gleichwohl fehlt es dem selbsternannten Forum an demokratischer Legitimität.
Seine Zusammensetzung und sein Handeln sind weder durch völkerrechtliche Verträge noch durch die UNO gestützt. Bestimmungen, die ihr Tun regeln, fehlen. Die fragwürdige Legitimität ist Ausdruck eines Machtverlustes der Global Governance der UN-Institutionen. Zu Recht drängt der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel mit anderen auf eine mindestens symbolische Anbindung an die UN.
Die »Gruppe der 20« (G20) umfasst die Regierungen von 19 der wirtschaftsstärksten Staaten der Welt und den Präsidenten der Europäischen Kommission. Die Bundesregierung betrachtet die G20 als das zentrale Forum der internationalen Zusammenarbeit in Finanz und Wirtschaftsfragen. Darüber hinaus genießt Spanien einen ständigen Gaststatus. Zusätzlich nehmen die Chefs vieler internationaler Organisationen wie der UNO, der Weltbank, des Weltwährungsfonds, der WTO, der OECD und der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) teil. Außerdem werden die Vorsitzenden regionaler Organisationen wie etwa der Afrikanischen Union (AU), des Verbandes Südostasiatischer Nationen (ASEAN) und der New Partnership for Africa’s Development (NEPAD) beteiligt.
Das diesjährige Forum stand unter dem Eindruck, dass mit der neuen Administration des US-Präsidenten Donald Trump eine politische Zeitenwende eingeleitet wurde.[1] Trump, der mehrfach im Zusammenhang mit seiner Konzeption des »America first« die Konfliktfelder – Klima, Handel, Flüchtlinge, Aufrüstung – angesprochen und bereits seinen Auftritt in Warschau am Vorabend des Gipfels zur Verdeutlichung seines Politikwechsels genutzt hatte, akzeptierte im Ergebnis einige Kompromissformeln. Außerdem hat der US-Präsident die positive Rolle der Bundeskanzlerin Angela Merkel beim Gipfel in Hamburg hervorgehoben: »Ihre Führerschaft ist absolut unglaublich… Sie waren unglaublich und haben einen tollen Job gemacht.«
Beim wichtigen Thema Freihandel haben sich die G20-Staaten für einen »wechselseitigen und gegenseitig vorteilhaften Rahmen für Handel und Investitionen« ausgesprochen. Sie billigten zudem »legitime« Maßnahmen zur Verteidigung des Handels. Wegen Trumps Abschottungspolitik war ein klares Bekenntnis auch der Amerikaner gegen Protektionismus lange unklar. Offen bleibt freilich, was die Formulierungen wert sind, wenn jeder der Beteiligten seine eigene Deutung verfolgt.
Alle Staaten außer den USA bekräftigten ihre Unterstützung des Pariser Klimavertrags, die historische Vereinbarung solle »rasch« gesetzt werden. Die VertreterInnen der 18 verbleibenden Staaten und der EU nahmen die Abkehr der Vereinigten Staaten vom gemeinsamen Klimaschutz nur »zur Kenntnis«. Dem amerikanischen Wunsch nach Neuverhandlungen wurde eine Absage erteilt, das Abkommen wurde als »unumkehrbar« bezeichnet.
Bei den Themen Partnerschaft mit Afrika, Gesundheit, Migration, Digitalisierung, Beschäftigung und Frauenförderung konnten Kompromissformeln vereinbart werden. Außerdem haben sich die Präsidenten der Vereinigten Staaten und Russlands, Donald Trump und Wladimir Putin, am Rande des G-20-Gipfels auf einen Waffenstillstand für den Südwesten Syriens verständigt. Schließlich soll es einen neuen Anlauf für die Umsetzung des Waffenstillstands in der Ukraine geben: Kanzlerin Angela Merkel, der französische Präsident Emmanuel Macron und der russische Präsident haben über die weitere Umsetzung der Vereinbarungen von Minsk gesprochen.
Ein Durchbruch in den Hauptkonfliktfeldern der Weltpolitik sieht gewiss anders aus. Eine offene Konfrontation in den strittigen Fragen hätte das Ende des G20-Forums eingeleitet. Einstimmigkeit ist eine hohe Hürde, und ihr Ergebnis sind oft Formelkompromisse. Dass die Konfrontation vermieden wurde, ist ein Erfolg für die schwarz-rote Koalition und wird vermutlich überwiegend dem Konto der Kanzlerin Merkel gutgeschrieben werden.
Schon im Vorfeld des G20-Gipfels zeigten die Globalisierungskritiker Vielfalt und Kreativität. Das Treffen der Staats- und Regierungschefs wurde begleitet und ergänzt durch ein breit angelegtes Informations- und Diskussionsangebot. Einige Tausend Aktivisten haben ihre Kenntnisse in gesellschaftlich-politischen Fragen aufgefrischt und über kurz- und mittelfristigen Gegenstrategien debattiert.
Die Gipfel-KritikerInnen, die keinesfalls nur aus der Hansestadt und der umliegenden Region zu den öffentlichen Informations- und Protestveranstaltungen antraten, hatten reichlich Auswahl unter verschiedenen Angeboten. Zugleich zeichnete sich schon seit längerem ab, dass es nicht möglich sein würde, den Protest auf den Straßen und Plätzen zu bündeln, was keineswegs nur Ausdruck der Vielfalt war. Die Auseinandersetzungen über mögliche Protestformen waren bereits im Vorfeld bestimmt durch wechselseitige Vorbehalte bis hin zu der Tatsache, dass ein Teil derer, die sich selbst als »Autonome« erklären, sich gemeinsamen Debatten und Verabredungen entzogen.
Schon während der Vorbereitungsphase des Gipfels wurde deutlich, dass der Veranstaltungsort Hamburg für größere Teile der Bewohner mit erheblichen Einschränkungen und Hindernissen im Alltag verbunden sein würde. Die Kritik war verbreitet, dass der finanziell-organisatorische Aufwand unverhältnismäßig zum politischen Ertrag sei und auf eine Art Geiselnahme größerer Teile der Bevölkerung hinauslaufen würde. Bei aller kritischen Distanz überwog in der Öffentlichkeit die Einschätzung: Wenn schon solche Treffen, dann sollten sie an Orten ausgerichtet werden, an denen nicht durch »Sicherheitsmaßnahmen« größere Teile der Stadtbevölkerung Einschränkungen in ihrem Alltag ausgesetzt werden müssten.
Viele Hamburger wollten den Gipfel nicht in ihrer Stadt, doch die Politik blieb stur. »Seien sie unbesorgt: Wir können die Sicherheit garantieren«, hatte Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) immer wieder beteuert. Die Administration sei gut genug vorbereitet, um die Rückwirkungen auf den Alltag zu minimieren und gewaltsame Proteste zu unterbinden.
Dies war eine Fehleinschätzung: Für viele Hamburger war der Alltag bereits vor dem Gipfel durch die Vorbereitungen und Sicherheitsvorkehrungen beeinträchtigt. Und zu den Einschränkungen und Umwegen auf ihrem Arbeitsweg oder zur Kita etc. kam während des Gipfels der zeitweise Zusammenbruch des öffentlichen Nahverkehrs, die stundenlange Lärmbelästigung durch Hubschraubereinsätze) und durch die Eskalation der Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und den militanten Teilen der Protestbewegungen hinzu.
Gewaltsame Konfrontationen mit der Polizei waren absehbar, weil in der Hansestadt eine starke linksautonome Szene zu Hause ist, die sich zwar gern Diskussionen mit anderen linken Kräften entzieht, dafür über Rückhalt aus anderen Regionen verfügt.
Der Tagungsort des Gipfels war in die Messehallen in die Nähe des Schanzenviertels gelegt worden – einem Quartier, in dem der Großteil der Bevölkerung gegenüber solchen symbolischen Operationen der Politik wenig Verständnis aufbringt. Trotzdem wollte der Bürgermeister Scholz hier Hamburg der ganzen Welt als weltoffene Metropole präsentieren. Er sprach von »einer großen Sache für unsere Stadt« und führte zudem als Argument an, dass man Erfahrung mit Protesten habe.
Die weltoffene Metropole erlebte über fast zwei Tage einen veritablen Kontrollverlust: Trotz der großspurigen Ankündigung des Bürgermeisters, die noch durch entsprechende Drohgebärden des als Hardliner bekannten Einsatzleiters der Hamburger Polizei, Hartmut Dudde, befeuert wurde (O-Ton laut Süddeutscher Zeitung: »Sie werden das gesamte deutsche Polizeiequipment hier in Hamburg sehen. … Wenn wir’s komplett brauchen, packen wir eben alles aus.«), blieb ein Großteil der Warenhäuser und Geschäfte in der Hamburger Innenstadt geschlossen oder reagierte mit Abdeckung der Auslagen.
Dennoch kam es nicht nur in der Innenstadt zu massiven Zerstörungen und Plünderungen, brennenden Barrikaden und abgefackelten Autos sowie zu einem massiven Ausbruch von Gewalt gegen öffentliche Einrichtungen und Personen in einigen Quartieren. Dass kleine Läden geschont und nur die Geschäfte großer Ketten zum Opfer der Aggression werden sollten, dafür dürften nur wenige Verständnis aufbringen. Zudem wurden bei den gewaltsamen Protesten einige hunderte Polizeikräfte und Demonstranten verletzt.
Auch wenn die Strategie (wenn man denn von einer sprechen kann – von Deeskalation war jedenfalls wenig zu bemerken) der Einsatzleitung und der politisch Verantwortlichen für die Polizeieinsätze noch einer gründlichen Aufklärung bedarf, ist klar: Dieser Kontrollverlust seitens der offiziellen Politik aber auch von Seitens des politischen Widerstandes kann nicht hingenommen werden.
Olaf Scholz’ Überzeugung, dass hässliche Bilder von Gewaltexzessen verhindert werden könnten und es Leute geben werde, »die sich am 9. Juli wundern werden, dass der Gipfel schon vorbei ist«, ist in Feuer und Rauch aufgegangen – und ein Beleg für die Abgehobenheit der Politik. Hängen blieben wird im kollektiven Gedächtnis der Kontrollverlust.
Aber die Gewaltexplosion, die Plünderungen und die angezündeten Autos sind letztlich auch eine veritable Blamage für alle Kräfte, die dafür streiten, dass eine andere Welt möglich ist und sich für einen Politikwechsel engagieren. Es ist der gesellschaftlichen Linken einmal mehr nicht gelungen, zu verhindern, dass ihre Anliegen von Leuten in den Hintergrund gedrängt werden, denen es ausschließlich um Bambule geht. Und bestätigt wurde der Zweifel, dass eine Millionenstadt kein geeigneter Ort für einen internationalen Gipfel ist.
[1] Vgl. hierzu ausführlicher Joachim Bischoff: Donald Trump – ein Präsident mit Risiko. Die USA zwischen Niedergang der Demokratie und dem Umsturz der Weltordnung, Hamburg 2017 (im Erscheinen).