6. März 2014 Knut Persson
HSH Nordbank AG Prozess: Schrödingers Katze
3.3.2014: Der Vorsitzende Richter lässt den Gutachter H. von der »Frankfurt School of Finance and Management« ‚ Professor für Financial Risk Management den ganzen lieben Verhandlungstag über »Gaußsche Copula« referieren. Das ist im Wesentlichen eine glockenförmige Normalverteilung und dient u.a. der Risikoberechnung von »strukturierten Wertpapieren« (CDOs bzw. Verbriefungen). Die Verteidiger sind sichtlich genervt. Gegen Ende des Tages schmeißt Verteidiger K. wütend seine vorher ausgezogene schwarze Robe auf den Tisch, nachdem er zuvor mit der Faust auf den Tisch gehauen hat, weil er vom Staatsanwalt über den Mund gefahren wurde. Er beschwert sich lauthals. Unter lautem Geschrei und Gepolter verlässt er den Saal, um nach ca. zehn Minuten, jetzt abgekühlt, wieder zu erscheinen. Dann geht es weiter.
»Untreue in einem besonders schweren Falle« lautet die Anklage in diesem Prozess. Der Staatsanwalt spricht von einem Schaden in Höhe von 158 Mio. EUR. Im Zentrum der Untersuchung steht ein undurchschaubares Projekt »Omega 55«, mit dessen Hilfe faule Wertpapiere im Dezember 2007 in ein SPV ausgelagert werden sollten. Der Deal wird über die London Branch der HSH abgewickelt. Der Geschäftspartner ist die französische Bank BNP Paribas, eine der führenden Geschäftsbanken Frankreichs und u.a. im Investment Banking sowie Asset Management tätig.
Der Gutachter H. soll den Vermögensschaden beziffern. An diesem ereignisreichen Tag tut er es noch nicht. Nur die Methoden hierzu werden referiert. Der »Highlight« ist für einen weiteren Verhandlungstag aufbewahrt. Es droht jetzt Folgendes – und hier kommt »Schrödingers Katze« zum Zuge, zitiert vom Vorsitzenden Richter T.: Der Vermögensschaden kann nur mit einer Wahrscheinlichkeit »α« im Intervall »a,b« in einer Normalverteilung mit dem Mittelwert »m« und der Standardabweichung »s« angeben werden. Unten dazu mehr.
Aber zunächst zu Schrödinger. Schrödinger war Physiker und hat seinen Nobelpreis durch eine Gleichung in der Quantenphysik erhalten. In der Gleichung wird mit Wahrscheinlichkeiten gearbeitet. Einstein hatte noch gesagt: »Gott würfelt nicht« und meinte damit die Wahrscheinlichkeitsrechnungen in der bizarren Welt kleinster Teile der Quantenphysik. Nun scheint der liebe Gott aber doch zu würfeln, und nicht nur in der Quantenphysik, sondern noch viel mehr in der Finanzwelt.
Jetzt kommt die Katze ins Spiel: Das Katzenspiel (nur ein Gedankenspiel! Tierliebhaber können ganz unbesorgt sein), von Schrödinger erfunden, läuft so: Eine Katze wird in eine Kiste gesperrt. Deckel drauf. In der Kiste befindet sich auch eine Gift-Amphiole und ein Atom, das mit einer Wahrscheinlichkeit »α« im Zeitintervall »∆t« zerfällt. Zerfällt das Atom, zerschlägt es die Gift-Amphiole und tötet die Katze. Zerfällt das Atom nicht, bleibt die Katze am Leben. Nach »∆t« ist das Experiment beendet. Der Deckel bleibt drauf. Die Frage jetzt: Lebt die Katze oder ist sie tot? Nachsehen geht nicht. Im realen Leben geht das bei den kleinsten Teilen der Quantenphysik auch nicht. Jetzt könnte man meinen: Das ist alles wirklichkeitsfremdes Geblödel. Ist es eben nicht. Ein Drittel unseres BIP hängt von dieser Schrödinger-Gleichung ab: Halbleitertechnologie, CD/DVD, PCs, Internet, Lasertechnologie, Fernsehen etc., etc.. Die Physiker scheinen das in den Griff bekommen zu haben. Das mit der Katze.
Am 24.August 1998 brach unter großem Getöse LTCM – Long Term Capital Management – zusammen: Ein Verlust von 1,8 Mrd. US-Dollar in einem Monat brachte den Hedge-Fond zum Einsturz. Die amerikanische Notenbank FED brachte 14 Wall Street Banken dazu, 3,6 Mrd. US-Dollar zusammenzukratzen, um ein größeres weltweites Desaster zu verhindern. Im Oktober 1997 hatten die Inhaber des Hedge Fonds – Robert Merton und Myron Scholes – den Nobelpreis für Wirtschaft erhalten. Den Preis bekamen sie, weil sie ein Wahrscheinlichkeitsmodell, das Risiken im Derivatemarkt berechenbar machen sollte, entwickelt hatten und es zuerst mit riesigem Erfolg auch anwandten. Alle Risiken dieser Welt schienen beherrschbar zu sein.
Bis am 17.August 1998 ein Ereignis eintrat, welches das Merton/Scholes-Modell nicht berücksichtigte: Der Zusammenbruch des russischen Finanzsystems brachte die asynchron laufenden Finanz-Faktoren dazu synchron abzulaufen und zwar gegen die Positionen von LTCM. Der Markt war länger irrational als das Modell es annahm. Später sagte man, die Varianz für das Modell sei über einen zu kurzen Zeitraum berechnet worden. Die Finanzwelt war gewarnt. Mehr nicht. (gut beschrieben bei: Niall Ferguson: The Ascent of Money/Der Aufstieg des Geldes, 2008/2012, dt. S.283-293)
Am 15.September 2008 brach Lehman Brothers Inc. zusammen. Das Finanzhaus hatte im Derivategeschäft – insbesondere mit Immo-Papieren – gearbeitet. Auch in diesem Segment werden die Risiken mit Mathegenie Gauß (1777-1855) ermittelt. Jetzt waren es nicht die Russen, sondern hausgemachte US-Hypothekarkredite, die die asynchronen Finanzfaktoren synchron gegen Lehman Positionen ablaufen ließen. Diesmal konnte die Krise nicht mehr eingedämmt werden – und die US-Regierung wollte auch nicht bändigen. Lehman war global sehr viel stärker vernetzt als LTCM – u.a. mit der HSH Nordbank. Was lernt die Finanzwelt daraus? Nicht sonderlich viel.
»Tuesday, March 4, 2014« berichtet das Wall Street Journal auf Seite acht über eine weitere gigantische Blase. Diesmal auf dem Markt für Studentenkredite. Folgender Fall wird dargestellt: Ein US-Arbeitsloser hat Schulden. Was macht er? Er nimmt einen Studenten-Kredit auf, um zu studieren. Mit dem Kredit bezahlt er erst mal seine alten Schulden, um sich dann den akademischen Weihen zu widmen. Lapidar in der Überschrift: »Not all Student Loans Finance College Degrees« (»Nicht alle Studenten nehmen Kredite auf für den Uni-Abschluss«). Der Markt wächst gigantisch: Waren es 2003 noch ca. 250 Mrd. US-Dollar »Student Loans«, sind es Ende 2013 schon 1,08 Bio. US-Dollar. Quelle hierfür: New York FED.
Es ist abzusehen, was jetzt passiert: Im Derivatemarkt werden Wetten abgeschlossen auf den Zusammenbruch des Marktes für Studentenkredite. Irgendeine Großbank wird Wetten darauf abschließen und sich dabei verzocken. Gaußsche Copula Modelle werden vorher bemüht, um das Risiko zu berechnen. Alles weitere siehe oben.
Der Gutachter H. deckt Schwächen im Modell auf. Etliche Größen im Modell müssen geschätzt werden. Dabei sei eine »sehr dünne Datenbasis« vorhanden, insbesondere wenn der Markt oder einzelne Namen illiquide werden. Die Korrelationen innerhalb des Modells (»Copula«) sind die Schwächen. Die Modelle sind wohl mathematisch elegant, empirisch jedoch teilweise irrelevant. Ein Spiel mit dem Feuer: Die »Kalibrierung« des mathematischen Modells an die empirische Wirklichkeit ist der Pferdefuß.
Kommen wir zurück zum HSH-Prozess: Der Gutachter H. könnte zu folgenden Ergebnis kommen: Der Vermögensschaden bei dem dubiosen »Omega 55-Deal« beläuft sich auf, sagen wir mal neun Mio. Euro. Er kann das aber nur als Mittelwert »m« plus/minus acht Mio. Euro mit einer Wahrscheinlichkeit von 95% angeben. Das könnte der Verteidigung die Variante eröffnen zu sagen, bei einer Wahrscheinlichkeit von 99% wäre das Intervall nicht acht Mio. Euro, sondern 10 Mio. Euro. Was zur Folge hätte, dass der eine Arm der Gaußschen Normalverteilung einen Vermögensschaden von 19 Mio. Euro angibt, der andere jedoch einen Gewinn von eine Mio. Euro feststellt. Und dann würde gelten: In dubio pro reo. Die sechs Angeklagten könnten als freie Bürger mit einem Freispruch rechnen.
Der Kapitalismus ist offensichtlich wie eine Black Box: Man weiß im Einzelnen nicht, was im Innern abläuft. Der HSH Nordbank-Prozess ist ein Beispiel dafür. Es ist für das Gericht mühsam die Abläufe im Inneren der Bank zu rekonstruieren. Es ist wie bei Schrödingers Katze: Ist sie tot (Wahrscheinlichkeit: »α«) oder lebt sie mit einer Wahrscheinlichkeit von »1-α«?
In der Kantine des Strafgerichts verkündet Nonnenmacher (Angeklagter im Prozess und Mathematikprofessor), er hätte jetzt hier seine x-te Currywurst gegessen. Wir haben ihn gefragt, ob das nicht ungesund sei, immer Currywurst zu essen. Nein, hat er gesagt, das sei Risikovermeidung, da man weiß, was man bei der Currywurst hat.
Gaußsche Normalverteilung im Alltag.