11. September 2012 Dokumentation
„Geplante Kürzungen haben fatale Folgen für unsere Stadt“: Hamburger Bündnis kritisiert in offenem Brief den sozialpolitischen Weg des Senats
Schon seit längerer Zeit hat der mit absoluter Mehrheit regierende SPD-Senat die Bevölkerung gewarnt: Mit dem kommenden Doppelhaushalt für die Jahre 2013/2014 werde die Austeritätspolitik erst ihre volle Wirksamkeit erhalten. Die Stunde der Grausamkeiten ist jetzt da.Die BürgerInnen werden künftig noch stärker auf öffentliche Leistungen in der gewohnten Qualität verzichten müssen. Spielräume werden bestritten und Politik wird auf das bloße Umsetzen einer Sanierungslinie reduziert. Die Bevölkerung wird über die Auswirkungen systematisch desinformiert.
Zu Recht kritisieren Gewerkschaften und Sozialverbände die einseitige soziale Ausrichtung der Austeritätspolitik. Dagegen haben im Juni Vertreter der Wohlfahrtsverbände, Kinder- und Jugendarbeit sowie der Gewerkschaften das Bündnis "Gegen Rotstift" gegründet, um gemeinsam mit DGB, GEW und Ver.di "ein Zeichen gegen die Rotstift-Politik des Hamburger Senats zu setzen."
Dieses Bündnis hat sich in einem offenen Brief an die SPD-Politiker in den Bezirken und Distrikten gegen die Kürzungspläne des Senats im Sozialbereich und im öffentlichen Dienst ausgesprochen und kritisiert, dass der Senat trotz prognostizierter Einnahmenrekorde bei seinem unsozialen Kurs bleibe. Dabei gebe es u.a. durch Steuermehreinnahmen und die Übernahme der Grundsicherung durch den Bund genug Spielraum, um die geplanten Kürzungen zurückzunehmen.
Wir dokumentieren den Offenen Brief in dieser Stelle:
An die Bezirksabgeordneten der SPD- Fraktionen und die Distriktvorsitzenden
Sehr geehrte Damen und Herren,
wir sind tief besorgt über den sozialpolitischen Weg, den die SPD und der Hamburger Senat eingeschlagen haben. Die geplanten Kürzungen in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit und bei den Zuwendungsempfängern werden erst der Anfang sein, denn allein im Etat der BASFI sollen zusätzlich noch mehr als 50 Millionen Euro eingespart werden. Durch die falsche Prioritätensetzung des Senats werden die Kürzungen auf dem Rücken der Schwächsten in unserer Gesellschaft ausgetragen.
Trotz prognostizierter Einnahmenrekorde bleibt der Senat bei seinem Kurs. Dabei gibt es genug Spielraum, um die geplanten Sparmaßnahmen zurückzunehmen: Steuermehreinnahmen (+380 Mio. Euro), „Restmittel“ aus dem Bildungs- und Teilhabepaket (+15 Mio. Euro), Übernahme der Kosten für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung durch den Bund (derzeit mind. 50 Mio. Euro, bis 2020 jährlich 250-300 Mio.), Beteiligung des Bundes an der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung (mehr als 100 Mio. Euro pro Jahr ab 2013).
Nicht nur wir, sondern immer mehr Hamburger Bürgerinnen und Bürger bekommen das Gefühl, dass die SPD über unsere und ihre Köpfe hinweg entscheidet und einseitig vollstreckt. Daher haben wir uns in einem breiten Bündnis zusammengeschlossen, um gemeinsam für ein soziales Hamburg einzutreten. Wir fordern Sie als Basis Ihrer Partei auf, sich für die Rücknahme der Kürzungspläne stark zu machen und für eine soziale, gerechte und demokratische Politik einzutreten. Die Antwort auf die Krise darf nicht Kürzen und Kaputtsparen heißen. Die Antwort muss heißen: Einnahmen erhöhen durch ein gerechtes Steuersystem!
Die geplanten Kürzungen werden nicht nur in Ihrem Bezirk fatale Auswirkungen haben. Zahlreiche Einrichtungen wie Bauspielplätze, Häuser der Jugend, Mädchentreffs und Jugendzentren stehen vor einer ungewissen Zukunft und müssen ggf. ihr Angebot abbauen oder einschränken. Dabei arbeiten die Beschäftigten in den Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit in Hamburg – ob im öffentlichen Dienst oder in Freier Trägerschaft – schon lange am Rande der Belastbarkeit. In 20 Prozent der Einrichtungen gibt es nicht einmal eine volle Planstelle.
Wir wollen, dass die Menschen in Ihrem Bezirk auch in Zukunft die Angebote finden, die sie suchen, dass sie die Hilfe bekommen, die sie benötigen. Dass wir damit nicht alleine sind, zeigen mehr als 20.000 Unterschriften Hamburger Bürgerinnen und Bürger und die klaren Entscheidungen der Jugendhilfeausschüsse, die sich in allen Bezirken mehrheitlich gegen die Kürzungen ausgesprochen haben – teilweise mit den Stimmen der SPD-Abgeordneten. Vielleicht auch mit Ihrer Stimme?
Wo sollen Kinder und Jugendliche am Nachmittag hin, wenn die Offenen Angebote nun schließen oder ihre Öffnungszeiten begrenzen müssen? Die Ganztagsangebote, die sich noch im Aufbau befinden, können die entstehende Lücke nicht schließen. Zum einen, weil diese Angebote bisher nur auf die Grundschulen begrenzt sind. Zum anderen sprach selbst Schulsenator Ties Rabe davon, dass „wir erst langfristig die 50-Prozent-Marke“ erreichen. Was machen dann die anderen 50 Prozent, wenn die Schule vorbei ist? Und was ist mit denen, die den Unterricht schwänzen oder ihm vollständig fernbleiben?
Wer davon ausgeht, dass alle diese Jugendlichen den Nachmittag freiwillig in der Schule verbringen, verschließt die Augen vor der Realität. Seit Kurzem schwebt das Damoklesschwert nun auch über den Zuwendungsempfängern. Hier wird denjenigen der Boden unter den Füßen weggezogen, die sich in unserer Stadt – häufig ehrenamtlich – für die Schwächsten in unserer Gesellschaft einsetzen. Bei Seniorentreffs, Beratungseinrichtungen für Migranten oder auch Selbsthilfeorganisationen (z.B. im Suchthilfebereich) drohen Kürzungen, die auch zur vollständigen Schließung führen können.
Unverständlich bleibt auch die Haltung der BASFI zur Umsetzung der Kürzungen bei der Arbeitsförderung. In diesem Jahr drohen erneut Millionenbeträge an den Bundeshaushalt zurückzufließen. Bezirkliche Interessen bei der Organisation öffentlich geförderter Beschäftigung werden nicht berücksichtigt, weitere Stadtteilprojekte werden schließen.
Wenn wir dann noch in Schreiben der BASFI und der BGV lesen müssen, dass zukünftige Tarifsteigerungen bei den Zuwendungen nicht weiter berücksichtigt werden sollen, bedeutet das nicht nur eine zusätzliche Belastung für viele Einrichtungen und Träger, die dieses finanzielle Loch nicht stopfen können, sondern würde einem Lohndumping Tür und Tor öffnen und zu Entlassungen und Personalabbau führen. Im öffentlichen Dienst, wo die Ausgaben gemäß der Senatsvorgaben nur um maximal 0,88 Prozent steigen dürfen, rechnen Experten damit, dass bis 2019 mehrere Tausend Stellen wegfallen. Eine Wertschätzung gesellschaftlich wertvoller Arbeit sieht anders aus. Dabei ist jetzt schon klar, dass besonders im Gesundheits- und Pflegebereich, aber auch im Schulwesen, der Jugendarbeit und Alterssicherung in den kommenden Jahren immense Mehrausgaben nötig sein werden, will man auch nur halbwegs den aktuellen Standard halten. Von einer Verbesserung der Situation ganz zu schweigen.
Wir fordern Sie auf, endlich den Blick dorthin zu richten, wo Geld im Überfluss vorhanden ist – in Hamburg noch mehr als in anderen Städten. Das wohlhabendste Zehntel der Gesellschaft verfügt über mehr als 60 Prozent des Gesamtvermögens. Die ärmere Hälfte besitzt hingegen nur ein Prozent. Es wird Zeit, die großen Vermögen an den Kosten der Krise zu beteiligen. Um der sozialen Ungleichheit unserer Gesellschaft entgegenzuwirken, brauchen wir eine Vermögens- und Transaktionssteuer, eine höhere Erbschaftssteuer, einen höheren Spitzensteuersatz und eine Reform der Körperschaftssteuer.
Die Politik muss endlich handeln. Brechen Sie das Tabu und setzen Sie sich mit Ihrer Partei für höhere Einnahmen ein. Ignorieren Sie nicht die Proteste. Ignorieren Sie nicht die Sorgen der Menschen, die Sie gewählt haben. Nehmen Sie die Bürgerinnen und Bürger ernst und kämpfen Sie mit allen Mitteln gegen die Kürzungen im Sozialbereich und für eine lebenswerte Stadt für alle!
Mit freundlichen Grüßen,
gez.
Sieglinde Friess, Leiterin ver.di Fachbereiche Bund, Länder und Gemeinden
Joachim Gerbing, Verband Kinder- und Jugendarbeit Hamburg e.V.
Joachim Speicher, Geschäftsführer Der Paritätische Wohlfahrtsverband Hamburg e.V.
Gudrun Stefaniak, Vorstand Bundesarbeitsgemeinschaft Arbeit, Landesverband Hamburg
Sigrid Strauß, 1. Stellvertretende Vorsitzende Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Landesverband Hamburg (GEW)
Klaus Wicher, 1. Landesvorsitzender des Sozialverbandes Deutschland e.V., Landesverband Hamburg
Für die Arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege Hamburg e.V. (AGFW): Michael Edele. Die AGFW ist ein Zusammenschluss von: Arbeiterwohlfahrt, Caritasverband, Der Paritätische Wohlfahrts-
verband, Deutsches Rotes Kreuz, Diakonisches Werk und Jüdische Gemeinde.
Bündnis gegen Rotstift
c/o Der PARITÄTISCHE Hamburg
Joachim Speicher
Wandsbeker Chaussee 8
22089 Hamburg
Tel.: 040/415201-51
Fax: 040/415201-20
E-Mail: kontakt@buendnis-gegen-rotstift.de
Hamburg, 24.08.2012