16. Oktober 2015 Joachim Bischoff / Bernhard Müller: Eine Zwischenbilanz für Hamburg
Flüchtlinge, Staatsapparat und Politik
Die Zahl der Flüchtlinge ist im September in Hamburg weiter deutlich angestiegen. Insgesamt suchten im vergangenen Monat in der Hansestadt insgesamt 10.100 Menschen Schutz. Seit Jahresbeginn verzeichnete das Einwohner-Zentralamt damit 35.021 neue Flüchtlinge (im Vorjahreszeitraum waren es 8.774). Nach den bisherigen Regelungen bleibt nur ein Teil dieser Menschen für längere Zeit in Hamburg.
Die Zahl der nach der Registrierung der Hansestadt zugeteilten und damit länger bleibenden Flüchtlinge stieg seit Jahresbeginn bis Ende September auf 13.179 (Vorjahreszeitraum: 4.429). Von diesen müssen 12.111 den amtlichen Angaben zufolge von der Stadt untergebracht werden. Da in den zurückliegenden Monaten die Angebote bei öffentlicher Unterbringung eher restriktiv entwickelt wurden, muss der Stadtstaat bei der Unterbringung von Flüchtlingen auch auf Container und Zelte zurückgreifen. Aktuell sind über 3.000 Zufluchtsuchende in Zelten untergebracht. Alle Zelte mit insgesamt gut 4.100 Plätzen seien inzwischen beheizbar, teilte die Behörde mit. Viele dieser Zelte seien allerdings nicht wirklich für den Winter geeignet. Sie sollen in den nächsten Wochen ausgetauscht werden – vor allem gegen Holzbauten.
Der Erste Bürgermeister Olaf Scholz hat angesichts der vielfältigen Improvisationspannen bei der Bewältigung des Zustroms von Flüchtlingen und den unübersehbaren Schwierigkeiten die unverzichtbare Flexibilität des Staatsapparates herzustellen, in einer Regierungserklärung Position bezogen. Niemand habe so viele Plätze für Flüchtlinge geschaffen wie Hamburg. »Allenfalls Bayern kann sich mit uns vergleichen«, rief Scholz den Bürgerschaftsabgeordneten zu. Eine Sternstunde der Kommunikation war diese Regierungserklärung gewiss nicht, es ging um eine Bestandsaufnahme im Scholzomat-Format, verbunden mit dem Ausblick auf schon bekannte künftige Maßnahmen.
Scholz legte dabei ein klares Bekenntnis zum Asylrecht ab. »Wir reichen Schutzsuchenden die Hand. Wir tun das, weil wir in einem Land leben, das klare Werte und Regeln besitzt, die beachtet werden. Und zwar von allen, die hier leben wollen.« Wer vor Gewalt und Unterdrückung nach Deutschland fliehe – etwa aus dem Nordirak, Syrien oder Eritrea –, der werde mit hoher Wahrscheinlichkeit Asyl erhalten. »Wir stehen in der humanitären Pflicht, diesen Menschen Schutz und Perspektive zu bieten.«
Er warnt vor den auf Bundesebene vom »Orban-Flügel« der CDU, aber teilweise auch aus den eigenen Reihen gemachten Vorschlägen zur Begrenzung der Zahl der Zufluchtsuchenden: »Wir dürfen aber in der aktuellen Lage mit Blick auf die Möglichkeiten der freiwilligen Rückkehr und der Abschiebung kein falsches Bild zeichnen. Die weit überwiegende Zahl der jetzt und in den nächsten Monaten zu uns Kommenden stammt aus Ländern, bei denen es sich nicht um jetzt oder künftig sichere Herkunftsländer handelt. Flüchtlinge vom Westbalkan machen aktuell nur noch eine kleine Minderheit aus. Die Mehrheit derjenigen, die uns aktuell erreichen, hat Verfolgung und Krieg hinter sich gelassen und wird wohl bleiben.« Zudem solle sich niemand der Hoffnung hingeben, dass sich das Problem von selbst erledige: »Wir gehen deshalb derzeit davon aus, dass es sich nicht um temporäre Aufwallungen handelt, sondern um grundsätzliche längerfristige Aufgaben.«
Wegen der vielen Flüchtlinge stehe die Hansestadt vor gewaltigen Herausforderungen. Auch hier positioniert sich der erste Bürgermeister nahe bei der Bundeskanzlerin: »Wir nehmen die Herausforderung an und wir wissen auch, wie wir sie meistern können.« Olaf Scholz wie Angela Merkel wissen um das große zivilgesellschaftliche Engagement in der Bevölkerung. »Es ist beeindruckend zu sehen, mit welcher Weltoffenheit und mit welcher Ernsthaftigkeit die Bürgerinnen und Bürger unserer Stadt sich dieser Aufgabe zuwenden.«
Die Konsequenzen der großen und von Monat zu Monat wachsenden Zahl von Zufluchtsichenden seien schon heute überall in der Stadt sicht- und spürbar. »Wir werden die Verfahren weiter beschleunigen und die Flexibilität entwickeln, die im Routinemodus manchmal als nicht so vordringlich erachtet wird. Mit Routine allein ist das nicht zu schaffen.« Raus aus der Routine heißt: Um genug Kapazitäten zur Unterbringung zu schaffen ist Flexibilität gefordert. »Flexibilität« heißt, dass schon mal die Bürgerbeteiligung ausgehebelt wird. »Das kann in den Verfahren an der einen oder anderen Stelle auch bedeuten, dass wir Beteiligung zwar gewährleisten, aber nicht so, wie es eigentlich unser Standard sein sollte.« Dazu gebe es angesichts der drohenden Raumknappheit während der kommenden Monate allerdings keine Alternative.
Das Wichtigste sei es im Moment, Obdachlosigkeit zu vermeiden, unterstreicht der Bürgermeister. »Wir werden vielen vieles abverlangen. Auch den Flüchtlingen. Sie werden sich darauf einstellen müssen, noch längere Zeit in den großen Massenunterkünften zu bleiben.« Und nicht nur das: 4.100 Plätze in der zentralen Erstaufnahme sind in Zelten. »Es wird mit Hochdruck daran gearbeitet, diese Plätze zu ersetzen oder winterfest zu machen«, verspricht Scholz. Das heißt im Klartext: Aus dem Abbau aller Zeltunterkünfte bis zum Winter wird wohl nichts. Ein Teil der Menschen wird auch in der kalten Jahreszeit in Zelten bleiben müssen.
Nach etlichen Monaten der Improvisation hat auch die Hamburger Regierungskoalition begriffen, dass eine behördenübergreifende Koordination unverzichtbar ist. Ziel ist es, eine leistungsfähige Struktur in der Administration zu schaffen und diese weiterzuentwickeln, welche die notwendigen Kapazitäten in der erforderlichen Geschwindigkeit bereitstellt. Darüber hinaus soll die Koordination der weiteren mit der Integration der Flüchtlinge zusammenhängenden Themen – wie Bildung, Arbeit, Wohnen und Gesundheitsversorgung – mit einbezogen werden. Man kann nur hoffen, dass auch der Kooperation mit den Organisationen und Kräften der Zivilgesellschaft entsprechendes Gewicht eingeräumt wird.
Die Herausforderung besteht seit dem Frühjahr darin, die Aufgaben im Bereich der Flüchtlingsunterbringung und -betreuung an die sich ständig verändernde Situation anzupassen. In jedem Monat dieses Jahres kamen mehr Schutzsuchende nach Hamburg als im Vormonat. Das hat alle Planungen über den Haufen geworfen. Noch 2011 gab es in der Erstaufnahme nur 400 Plätze. Für die zu Beginn dieses Beitrags genannten Schutzsuchenden stehen jetzt rund 16.800 Plätze an 26 Standorten zur Verfügung. Hinzukommen noch einmal 14.700 Plätze in öffentlich-rechtlicher Unterbringung, von denen derzeit rund 2.650 von Wohnungslosen genutzt werden. Das sind über 30.000 Plätze (Ende 2014: 13.000) in der Erstaufnahme und der Folgeunterbringung.
Damit hat sich in den letzten Monaten eine dramatische Verschiebung im Verhältnis von Erstaufnahme- und Folgeunterbringungsplätzen gegeben. Ende März gab es erst 4.809 Erstaufnahme- und 12.085 Folgeunterbringungsplätze (Ende Februar). Während bis heute 12.000 zusätzliche Erstaufnahmeplätze geschaffen wurden, blieb der Zuwachs bei der Folgeunterbringung mit zusätzlichen 2.600 Plätzen eher bescheiden. Selbst wenn ein größerer Teil der Schutzsuchenden, die sich jetzt in der Erstaufnahme befinden, auf andere Bundesländer umverteilt wird, stellt sich die Frage, wo die in Hamburg verbleibenden unterkommen sollen. Und was ist mit denen, die noch kommen werden? Da man davon ausgehen muss, dass die Zahl der Schutzsuchenden, die nach Hamburg kommt, auch in den nächsten Monaten hoch bleibt, ist bis Ende des Jahres mit insgesamt mindestens 50.000 Zufluchtsuchenden zu rechnen.
Das Versprechen des Senats zur Verbesserung dieser Situation lautet: »Um weitere Entlastung zu schaffen, werden wir allein in 2016 insgesamt 5.600 Wohnungen zusätzlich bauen – über alle Bezirke verteilt.« Dort will man Flüchtlingsunterkünfte bauen, die – weil mit mindestens fünf Personen belegt – etwa 30.000 Schutzsuchenden ein Dach über dem Kopf bieten. Aber was passiert bis zu deren Fertigstellung im Laufe des Jahres 2016? Wo will man die Schutzsuchenden bis dahin unterbringen? In noch mehr Massenunterkünften? In noch mehr Zelten? Dann doch in »aktiv genutzten Turnhallen und Sportplätzen«, was der Senst bisher zu vermeiden suchte? Und reichen die 5.600 Wohnungen angesichts der immer noch hohen Zahl an neuen Zufluchtsuchenden überhaupt aus?
Die Einrichtung eines zentralen Koordinierungsstabs war überfällig. Zu hoffen bleibt, dass diese Verwaltungsebene endlich auch das Problem der mittelfristigen Entwicklung angeht. Hamburg muss bis zum Frühjahr 2016 die öffentliche Unterbringung auf rund 50 000 Plätze erweitern und dazu eine entsprechende Infrastruktur aus- und aufbauen, d.h. neben Verpflegung, medizinischer Versorgung auch ein ausreichendes Angebot an pädagogischen und sozialkulturellen Entwicklungsmöglichkeiten. Dem Bau von Unterkünften muss höchste Priorität eingeräumt werden. Und das Wohnungsbauprogramm für Flüchtlinge massiv aufgestockt werden.
Die Ressourcen dafür sind durchaus vorhanden, wie der Erste Bürgermeister selber einräumt: »Bei aller Dramatik mancher Situation müssen wir uns davor hüten, in den Gestus des Notstands zu verfallen«. Die Stadt sei gut vorbereitet – auch finanziell. »Wir wissen in diesem Zusammenhang, dass noch ganz erhebliche finanzielle Belastungen auf uns zukommen werden, für die wir bereits mit einer Reserve im Haushalt Vorsorge getroffen haben. Zusätzlich hilft, dass die Länder jetzt bis zur BAMF-Entscheidung pro Asylbewerber monatlich 670 Euro vom Bund erhalten. Das ist eine wichtige Vereinbarung, um die unmittelbaren Kosten zu schultern.«
Die Sorge vieler Kommunen, woher die Finanzmittel kommen sollen, ist in Hamburg überflüssig. In der Tat steht die Stadt finanziell gut da. Erstens erwartet sie in diesem Jahr ein Überschuss von 600 bis 700 Mio. Euro. Die Unterstützungsleistung des Bundes für die Flüchtlingshilfe in dreistelliger Millionenhöhe kommt da noch oben drauf.
Der ungebrochene Ansturm von Flüchtlingen stellt Hamburg nicht nur vor enorme organisatorische Probleme, sondern ist zweifellos auch in finanzieller Hinsicht eine Herausforderung. Das zentrale Problem ist allerdings das Volumen der zusätzlichen Ausgaben, denn das Geld ist vorhanden. Nachdem Hamburg schon 2014 einen Haushaltsüberschuss von mehr als 400 Millionen Euro erzielt und damit vor allem Schulden getilgt hatte, lag der Etat per 31. Mai 2015 schon wieder mit 360 Millionen Euro im Plus. Am Jahresende wird auf jeden Fall wieder ein Überschuss im hohen dreistelligen Millionenbereich stehen. Der Haken daran: Die Stadt darf dieses Geld nicht ausgeben.
Wie das? Während in anderen Bundesländern die Schuldenbremse faktisch schon massiv durchlöchert wird, hält Hamburg an der selbstverschuldeten Fesselung fest – aufgrund des Finanzrahmengesetzes, das 2012 von der SPD beschlossen wurde. Es legt bis zum Jahr 2020 Ausgaben-Obergrenzen fest, an die sich der Senat zu halten hat. Will er doch mehr ausgeben, muss die Bürgerschaft erst das Gesetz ändern und neue Obergrenzen festlegen. Der Beschluss wäre in der Bürgerschaft einfach herbei zuführen. Faktisch betreibt aber auch der rot-grüne Senat eine Politik der Verschärfung der sozialen Spaltung: Alle Mehrausgaben für Flüchtlingsversorgung werden durch Umschichtungen im Haushalt aufgebracht. Logischerweise führt dies zu einer Verschärfung der Kürzungspolitik. Das Ziel dieser freiwilligen Selbstbeschränkung ist, die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse von 2020 an sicher einhalten zu können.
Was also macht der Senat? Er will die (noch zu niedrig angesetzten) Mehrkosten für die Unterbringung, Betreuung und Integration von Flüchtlingen(es geht jeweils insgesamt um etwa 600 Mio. Euro in den Jahren 2015 und 2016) durch Umschichtungen aus dem Haushalt finanzieren. Das bedeutet konkret Streichungen etwa im Haushalt für Arbeitsmarkt und Sozialpolitik. Mit dieser Logik wird mit Sicherheit die soziale Akzeptanz der gesellschaftlichen Anstrengung bei der Flüchtlingsbetreuung untergraben.
Die Alternative: Die erforderlichen Mittel werden durch die zusätzlichen Steuereinnahmen der Stadt in diesem Jahr finanziert. Diese Einnahmen müssen für diese bedeutende Aufgabe und Herausforderung genutzt werden dürfen! Der Senat wird aufgefordert, das Finanzrahmengesetz und andere gesetzliche Hemmnisse so zu verändern, dass zusätzliche Steuereinnahmen unter anderem für diese besondere Herausforderung, insbesondere auch den (zügigen) Bau von Flüchtlingswohnungen und die deutliche Verbesserung der Lebensbedingungen in den Erstaufnahmeeinrichtungen genutzt werden können.
Die Einrichtung eines längst überfälligen Koordinierungsstabes schafft die Rahmenbedingung für die zügige Konkretisierung einer mittelfristig ausgelegten Konzeption. Es geht in Zusammenarbeit mit der Bürgerschaft und den Bezirken um ein gesamtstädtisches ressortübergreifendes Handlungsprogramm zur Unterbringung, Betreuung und Integration von Flüchtlingen.
Flüchtlingspolitik ist ein Querschnittsthema. Ein offenes Aufnahme- und Integrationskonzept muss darum ressortübergreifend angelegt sein. Flüchtlingspolitik ist Senatsangelegenheit und nicht in der Zuständigkeit nur einer Verwaltung. Die verschiedenen Maßnahmen müssen koordiniert und auf das gemeinsame Ziel ausgerichtet werden. Erst Kooperation, Steuerung und Berichterstattung stellen sicher, dass die Umsteuerung gelingt, die einzelnen Maßnahmen ineinandergreifen und Ressourcen dort eingesetzt werden, wo sie notwendig sind.
Die Verwaltung muss den Auftrag beschleunigt umsetzen, einen Hamburger Flüchtlingsratschlag unter Einbeziehung der verschiedenen zivilgesellschaftlichen Organisationen und ehrenamtlichen Selbsthilfeorganisationen durchzuführen, um notwendige Maßnahmen und Kooperationen zur Unterbringung und Betreuung der Flüchtlinge zu optimieren. Daran sollen u.a. die kirchlichen Träger und engagierten Gemeinden, die Wohlfahrtsverbände, der Integrationsrat, die Willkommensinitiativen, die Stadtwerke, die SAGA AG, das Jobcenter und die Bundesanstalt für Arbeit teilnehmen. Letztere sollten ermuntert werden, die Anstrengungen für die Qualifizierung und Vermittlung von Flüchtlingen zu verstärken.
Der Stadtstaat Hamburg hat nur begrenzte Spielräume für die Entwicklung eines offenen Aufnahme- und Integrationskonzeptes. Viele der auf Ausgrenzung ausgerichteten, repressiven Regelungen gegen Flüchtlinge sind Bundesgesetz. Hamburg setzt sich für die Abschaffung der Kettenduldungen und aller Gesetze ein, die eine schnelle Integration und Bleibeperspektive verhindern.