Der rechte Rand

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Das antifaschistische Magazin (Hrsg.)
Das IfS. Faschist*innen
des 21. Jahrhunderts

Einblicke in 20 Jahre
»Institut für Staatspolitik«
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Reiner Rhefus
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Karl Marx war fünf mal in Hamburg?

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Karl Marx in Hamburg
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Linke Kommunalpolitik –
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33 Stätten der Erinnerung und Mahnung | Herausgegeben von der Willi-Bredel-Gesellschaft – Geschichtswerkstatt e.V.
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ISBN 978-3-89965-578-0

13. Februar 2012 Joachim Bischoff

Ende des »System Kahrs«?

Cosmicgirl/Staro1/wikipedia

Drei Wochen nach dem Methadon-Tod des Pflegekindes Chantal in Hamburg ist der umstrittene Chef des Bezirksamtes Mitte zurückgetreten. Markus Schreiber begründet seinen Rücktritt folgendermaßen: »Der entsetzliche Tod eines elfjährigen Mädchens unter den Augen meines Jugendamtes, meines Bezirksamtes belastet mich so stark, dass ich nicht weiter Bezirksamtsleiter sein will.«

Nach einem ausführlichen Gespräch mit Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) hat Schreiber darum gebeten, dass der Senat ihn als Bezirksamtsleiter abberuft. Der Politiker Schreiber hat seinen goldenen Rettungsschirm genutzt und wird weich fallen. Er war vor Jahren als Sprecher des Mitte-Rechts-Flügels seiner Partei angetreten und galt in den Augen Vieler als ordnungspolitischer Hardliner. Bekannt gemacht haben ihn seine Vorstöße gegen das Betteln in der Innenstadt oder sein Vorschlag, ganz Hamburg zum Sperrbezirk für Straßenprostitution zu machen, sowie die Forderung von hohen Geldbußen für Skateboarder auf dem Jungfernstieg.

Nach dem Tod des kleinen Mädchen Lara-Mia in Wilhelmsburg im Jahr 2009 gab es Auseinandersetzungen über Amtsführung und Kontrolle im Bereich des Jugendamtes in Mitte. Im vergangenen Jahr hat der Bezirksamtsleiter Aufmerksamkeit erreicht wegen der Errichtung eines teueren Zaunes zur Ausgrenzung von Obdachlosen. Auch der Streit mit den BauwagenbewohnerInnen von Zomia bestätigte das Image des Bezirksamtsleiters als Law and Order-Mann. In den Reihen der SPD war der Rückhalt für Schreiber in den letzten Monaten sukzessive gesunken.

Das »Hamburger Abendblatt« titelte jüngst:
»Schreibers Rettungsschirm heißt Kahrs«. BILD fragte noch kurz vor dem Abtritt: Warum hält die SPD in Mitte immer noch an Markus Schreiber fest? Die Boulevard-Zeitung verwies auf das »System Kahrs«: »Der mächtige Kreischef Johannes Kahrs (48) hält seine schützende Hand unbeirrt über Schreiber – und was Kahrs sagt, ist in der Mitte-SPD Gesetz. Denn fast jeder im Kreisverband ist ihm in irgendeiner Form verpflichtet.«

Allerdings:
Mit Schreiber kündigte auch der Vorsitzende des Jugendhilfeausschusses, Johannes Kahrs, seinen Rücktritt an. Auch Kahrs wird politisch für Chantals Tod mitverantwortlich gemacht. Dem engen Vertrauten Schreibers wird vorgeworfen, ein System von Abhängigkeiten aufgebaut zu haben. Kahrs zeigt Einsicht: »Ab einem bestimmen Zeitpunkt macht es einfach keinen Sinn mehr, gegen Vorurteile, gegen große Konstrukte anzulaufen. Wenn die Welle zu hoch ist, muss man sie tunneln.«

Der Jugendhilfe-Ausschuss, dem Kahrs seit 18 Jahren vorsitzt, hatte eine Schlüsselfunktion. Das Gremium verteilt pro Jahr rund fünf Mio. Euro für Kinder- und Jugendarbeit, einer klassischen SPD-Domäne. Kahrs hielt die Zügel fest in der Hand. »Ich bin ein erstklassiger Wahlkreisabgeordneter, ein hervorragender Kreisvorsitzender und ein guter Jugendhilfeausschussvorsitzender,« charakterisiert sich der Hamburger Bundestagsabgeordnete selbst. Als SPD-Kreisvorsitzenden von Hamburg-Mitte kennt ihn nicht nur die eigene Partei.

Als der frühere Parteivorsitzende Mathias Petersen 2007 Spitzenkandidat der SPD werden wollte, kämpfte Kahrs mit offenem Visier, um Petersen zu verhindern. Damals war es die Runde der Kreisvorsitzenden, die Petersens Vorpreschen unterband. Kahrs Name fiel auch, als vor der Bundestagswahl 2009 Danial Ilkhanipour, der bei Kahrs gearbeitet hatte, erst im Stillen Mehrheiten für sich organisierte, um dann gegen Niels Annen anzutreten und mit einer Stimme Mehrheit zu gewinnen – was die Partei in eine Krise stürzte und am Ende den Wahlkreis kostete. Kahrs weist jede Beteiligung an der Geschichte von sich.

Johannes Kahrs bleibt der gewählte Bundestagsabgeordnete des Wahlkreises 19. Das SPD-Mitglied ist zugleich Sprecher des rechten Seeheimer Kreises. Dreimal gewann er den Bundestagswahlkreis direkt. Kahrs setzt sich für seine WählerInnen ein. Ein Mittel: Er karrt BesucherInnen scharenweise zum Bundestag in Berlin. Er kommt zu den WählerInnen auch zum Kaffee. »Den Kuchen bringt er mit« heißt eine seiner originellen Aktionen. Die WählerInnen beeindruckt, dass er auch als bekannter Bundestagsabgeordneter weiter im Stadtbezirk, im Kleinklein der Kommunalpolitik, mitmischt, eben vor allem im Jugendhilfeausschuss.

Kahrs hat eine schlagkräftige Truppe,
wenn es darum geht, Veranstaltungen zu organisieren oder Plakate zu kleben. Kahrs-Plakate sind fast immer im Hamburger Stadtzentrum zu sehen, nicht nur in Wahlkampfzeiten. Er ist Mitglied in vielen Vereinen, aber auch in einer Studentenschaft. Er ist Oberstleutnant der Reserve. Seit langem steht Kahrs in der öffentlichen Kritik, weil er gegen die Spielregeln des Bundestages verstoßen hat: Seit Jahren gehört der Abgeordnete dem Präsidium des »Förderkreises Deutsches Heer« (FKH) an, der der Rüstungslobby nahe steht. Doch gegenüber der Parlamentsverwaltung verschwieg er die Nebentätigkeit, was ihm jetzt zu Recht viel politischen Ärger eintrug.

Dass Kahrs zur Rüstungslobby gehört,
kommuniziert er nicht gerne. Beim »Förderkreis Deutsches Heer« gibt es aber keine Zweifel. Den »Förderkreis« gibt es seit 1995. Vereinszweck: »Förderung des Verständnisses und der Unterstützung für die Bundeswehr, insbesondere der Belange der deutschen Landstreitkräfte in Politik und Öffentlichkeit zur Verbesserung und zum dauerhaften Erhalt der Einsatzfähigkeit der Bundeswehr.« In den Führungsgremien sind neben Rüstungslobbyisten und Offizieren mehrere Abgeordnete und auch Regierungsmitglieder tätig.

Kahrs begann seine Militärkarriere
als Panzergrenadier. Seitdem blieb er der Bundeswehr verbunden. Verständlich, dass ihm die Rüstungsindustrie nahe steht. 2005 gab es angeblich vom Rüstungskonzern Rheinmetall eine Parteispende unter der Veröffentlichungsgrenze von 10.000 Euro an Kahrs' Kreisverband Hamburg-Mitte. Auch Panzerhersteller Krauss-Maffei Wegmann blieb kurz unter der Veröffentlichungsgrenze. Insgesamt, so hat die »Frankfurter Rundschau« ausgerechnet, flossen mehr als 60.000 Euro von der Rüstungsindustrie in Richtung Kahrs.

In den Jugendhilfeausschuss kam Kahrs seinerzeit als Mitglied der Bezirksversammlung Mitte. Er blieb als »kundiger Bürger« für die SPD auch dabei, als er 1998 in den Bundestag einzog. Seit achtzehn Jahren leitet er den Ausschuss. Der 48 Jahre alte Kahrs betreibt Politik tatsächlich als Leidenschaft. Er ist immer im Einsatz, sozusagen 24 Stunden am Tag. Er strebt offenbar kein Ziel an, kein besonderes Amt oder eine besondere Funktion. Er braucht keinen großen Auftritt. Das Tägliche füllt ihn aus: Ausschussarbeit, Wahlkreisarbeit, Jugendarbeit, aber auch das, was ebenfalls zur Politik gehört: Streit ausfechten, Argumente austauschen, Beziehungen nach allen Seiten hin knüpfen und pflegen, »Strippen ziehen«. Viele GenossInnen in Hamburg sind ihm verpflichtet, Schreiber beispielsweise – man kennt sich aus Juso-Zeiten. Andere haben sich von ihm emanzipiert, Michael Neumann etwa, der Innensenator. Weil Kahrs sich mit nichts anderem als Politik zu beschäftigen scheint, ist er anderen immer einen Schritt voraus.

Was Kahrs und Schreiber jetzt trifft: Schon einmal, 2009, war ein Kind, die neun Monate alte Lara-Mia, durch Vernachlässigung gestorben, obwohl die Jugendhilfe das Kind und seine Eltern betreute. Aus dem Fall habe der Jugendhilfeausschuss viel gelernt und neue Regeln für den Umgang mit schwierigen Familien festgelegt, behauptet Kahrs. Er fügt hinzu: Obwohl gleichzeitig durch den damals CDU-geführten Senat die Gelder für die offene Jugendarbeit immer weiter gekürzt wurden. All die neuen Regeln seien jedenfalls im Fall Chantal auch angewendet worden.

Allein fünf Vertreter
des Allgemeinen Sozialen Dienstes hätten die Pflegefamilie Chantals besucht, dazu regelmäßig die Mitarbeiter des verantwortlichen freien Trägers. Niemand habe Bedenken geäußert. Der Fall sei nicht einmal der Jugendamtsleiterin, geschweige denn dem Bezirksamtsleiter und erst recht nicht dem Jugendhilfeausschuss bekannt gewesen. »Das treibt mich um, das ist nicht zu verstehen«, sagt Kahrs. Bezirksamtsleiter Schreiber hat die Jugendamtsleiterin noch vor seinem Rücktritt von ihren Aufgaben entbunden. Und er sagte öffentlich, schon 2009 nach dem Tod von Lara-Mia habe er der Frau nicht mehr vertrauen können. Freilich blieb das damals ohne Konsequenzen. Schreiber entließ sie, weil er selbst inzwischen zum Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung geworden war.

Keine Frage: Die Veränderungen im Bezirks Mitte sind weitreichend. Aber weder ist der Fall Chantal aufgeklärt noch zeichnet sich eine grundlegende Veränderung des Verwaltungshandelns ab. In einem von Bürgermeister Scholz angeforderten Gutachten schrieb der SPD-Jugendhilfeexperte Thomas Böwer im März 2011: »Wird dieses System der Hamburger Erziehungshilfen nicht einer dringenden Reform unterzogen, so ... laufen die politisch Verantwortlichen auch Gefahr, mit ähnlichen Fällen wie dem der kleinen Lara Mia konfrontiert zu werden. Es ... ist nicht gewährleistet, dass ein Kind, das sich bereits in staatlicher Obhut befindet, nicht doch oder gerade deshalb Schaden an Leib und Leben nimmt.«

Worum müsste es bei einer solchen grundlegenden Reform gehen?
Der SPD-Senat plant, im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe durch den Ausbau von sozialräumlichen Angeboten – vor allem vor dem Hintergrund des Kahlschlags der letzten 20 Jahre – ein Netz für die Kinder und Jugendlichen und ihre Eltern zu knüpfen, das ihnen hilft, mit ihrer schwierigen Situation fertig zu werden. Diese Veränderung hat allerdings auch einen ökonomischen Hintergrund: Man will dadurch Kosten bei den teuren »Hilfen zur Erziehung« einsparen.

Für eine grundlegende Verbesserung der Lebenssituation dieser Familien bedarf es über die Familien- und Jugendhilfe hinaus allerdings weitergehender Maßnahmen und Initiativen. Dazu gehören verbesserte Angebote der Kinderbetreuung, der schulischen und beruflichen Bildung, aber auch und nicht zuletzt bezahlbarer Wohnraum. Für Eltern wie Kinder geht es um gezielte Maßnahmen der beruflichen Qualifikation und Arbeitsplatzangebote, um aus dem Teufelskreis der Armut ausbrechen zu können.

Es ist scheinheilig, die Schuld am »Fall Chantal« und anderen Missständen jetzt bei den freien Trägern zu suchen, die früher staatlich organisierte Angebote der Kinder- und Jugendhilfe übernommen haben – auch, weil die Stadt dadurch (beim Personal) sparen wollte. Für eine qualitativ hochwertige Kinder- und Jugendarbeit müssen die staatlichen Stellen wie die freien Träger mit den entsprechenden personellen und finanziellen Ressourcen ausgestattet werden. Dies wäre – neben Frage der politischen Verantwortung – eine wichtige Schlussfolgerung aus dem Drama um die 11 Jahre alte Chantal.

Das alles kostet Geld
und die Haushaltslage ist mehr als angespannt. Unter dem Blickwinkel einer »Ökonomie des ganzen Hauses« ist das kurzatmige Sparen im Sozialetat allerdings mehr als kontraproduktiv. Kosten, die hier gespart werden, fallen dann anderswo an – bei den folgenden Generationen oder aber auch in späteren Entwicklungsperioden der Betroffenen. Zudem mahnen die Ereignisse in vielen anderen europäischen Ländern, welche Folgen Perspektivlosigkeit und ausbleibende staatliche Hilfen gerade für Kinder und Jugendliche zeitigen können. Die »Schuldenbremse« droht allerdings auch hier zum entscheidenden Bremsklotz für eine bessere Zukunft für die jungen BürgerInnen dieser Stadt zu werden.

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