Der rechte Rand

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Das antifaschistische Magazin (Hrsg.)
Das IfS. Faschist*innen
des 21. Jahrhunderts

Einblicke in 20 Jahre
»Institut für Staatspolitik«
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Friedrich Engels zum 200.

Reiner Rhefus
Friedrich Engels im Wuppertal
Auf den Spuren des Denkers, Machers und Revolutionärs im »deutschen Manchester«
184 Seiten | in Farbe | Hardcover | zahlreiche Fotos | EUR 16.80
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Lebenswertes Hamburg
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Karl Marx war fünf mal in Hamburg?

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Karl Marx in Hamburg
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Linke Kommunalpolitik –
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Crashkurs Kommune 12
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DenkMal Friedhof Ohlsdorf
33 Stätten der Erinnerung und Mahnung | Herausgegeben von der Willi-Bredel-Gesellschaft – Geschichtswerkstatt e.V.
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Das etwas andere Kochbuch

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Kleine Weltküche
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ISBN 978-3-89965-578-0

8. Februar 2012 Joachim Bischoff und Bernhard Müller

Der »Fall Chantal« und die Kinder- und Jugendhilfe in Hamburg

Mit dem »Fall Chantal« ist die Kinder- und Jugendhilfe in Hamburg erneut in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Der erste Bürgermeister, Olaf Scholz, fordert in diesem Zusammenhang eine »empirische Wende in der Jugendsozialarbeit«. Diese Diskussion um die Reorganisation der Kinder- und Jugendarbeit ist allerdings nicht neu. So gab es im Herbst letzten Jahres eine intensive Debatte um die Zukunft der Hilfen zur Erziehung (HZE). Lanciert wurde damals eine Vorschlag sozialdemokratischer Sozialpolitiker, den Rechtsanspruch auf Hilfen zur Erziehung aus Kostengründen abzuschaffen und ihn durch eine Gewährleistungsverpflichtung zu ersetzen.

Begründung: Die »Ausgestaltung des Hilfeangebots als individueller Rechtsanspruch und die starke Stellung freier Träger« machten das System »immer teurer«. Die zusätzlichen Mittel hätten nicht zu einer Situationsverbesserung der betroffenen Kinder und Jugendlichen geführt. Die bisherige Angebotsform – eine Betreuung durch Sozialpädagogen in den Familien – würde »in sehr vielen Fällen ins Leere« laufen.Nun ist der Vorschlag des Kippens des Rechtsanspruchs auf Hilfen zwar vom Tisch. Geblieben ist aber das Konzept, statt personalintensiver individueller Hilfe verstärkt auf ein »infrastrukturelles Angebot« in Schulen, Kitas und Jugendzentren zu setzen.

So wurden in Hamburg mit den Bezirken Verträge zur Umsetzung alternativer, günstigerer Angebote abgeschlossen. Sie sehen vor, dass der Senat den Bezirken zusätzlich Geld für »sozialräumliche Angebote« wie Mütter-Kind-Zentren zuweist und die Bezirke sich im Gegenzug verpflichten, ihre HZE-Ausgaben zu senken. 16 Mio. Euro durften die Bezirke 2011 dafür zusätzlich ausgeben. Die Etatansätze für die Hilfen zur Erziehung sind bewusst noch nicht gesenkt worden, weil es sich um gesetzliche Ansprüche handelt und ein Rückgang erst zu erwarten ist, wenn die alternativen Angebote wirken. Zudem soll der starke Anstieg der Heimunterbringung (die »teuerste Angebotsform«) schrittweise durch kostengünstige und fachlich sinnvollere Lösungen ersetzt werden.

Zu den Hilfen zur Erziehung zählen Maßnahmen, wie die ambulante Einzelfallbetreuung, die sozialpädagogische Einzelbetreuung oder die stationäre Unterbringung in Heimen und Jugendwohnungen. In den letzten 10 Jahren stiegen Fallzahl und Kosten in Hamburg stetig an. So schlägt die Heimerziehung mit knapp 4.000 Euro pro Monat und Kind zu Buche. Die Kosten für betreutes Wohnen liegen bei 1.500 Euro pro Person und Monat gestiegen. Und für die »intensive sozialpädagogische Betreuung« werden pro Fall und Monat 2.700 Euro ausgegeben.Wurden im Jahr 2005 noch knapp 140 Mio. Euro für diese Hilfen zur Erziehung aufgebracht, waren es 2011 rund 233 Mio. Euro sein.

Bundesweit wurden 2009 rund sieben Mrd. Euro für Hilfen zur Erziehung ausgegeben. Davon profitierten 810.000 Kinder und Jugendliche. Etwa 3,9 Mrd. Euro entfielen auf die Unterbringung junger Menschen außerhalb des Elternhauses in Vollzeitpflege, Heimerziehung oder in anderer betreuter Wohnform. Die Ausgaben für sozialpädagogische Familienhilfe betrugen rund 679 Mio. Euro.In diesem starken Anstieg der Ausgaben für Hilfen zur Erziehung in Deutschland wie Hamburg reflektiert sich die wachsende Not vieler Familien.

Veränderte Lebensformen, die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse, eine zunehmende Verarmung und der Abbau der sozialen Infrastruktur (etwa Schließung von Schwimmbädern, Bücherhallen, Schulen etc.) haben dazu geführt, dass viele Familien nicht mehr in der Lage sind, ihre Kinder angemessen zu betreuen und ihnen eine Perspektive zu geben. Dies betrifft insbesondere die Familien, in denen die Eltern arm und/oder prekär beschäftigt sind. Ihre Zahl ist in den letzten 20 Jahren deutlich angewachsen . Wir finden diese Familien zudem sozial-räumlich konzentriert in bestimmten Gebieten der Stadt.

So waren Ende 2010 in Hamburg ca. 230.000 Menschen auf Sozialleistungen angewiesen, das waren 12,8% der Bevölkerung. Der überwiegende Teil (190.000) bezog Arbeitslosengeld II und Sozialgeld (Hartz IV), hinzu knapp 30.000 BezieherInnen von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung sowie 3.100 EmpfängerInnen von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt (Sozialhilfe) außerhalb von Einrichtungen. 7.000 Menschen erhielten Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz.

In 16 Hamburger Stadtteilen waren mindestens 18% der Bevölkerung auf staatliche Transferzahlungen angewiesen. In diesen Quartieren gibt es auch meist einen überdurchschnittlich hohen Anteil von MigrantInnen sowie einen Wohnungsbestand mit vergleichsweise hohem Anteil an Sozialwohnungen.Besonders von Armut betroffen sind vor allem die Kinder. 24,5% aller Hamburger Kinder unter sieben Jahren lebte Ende 2010 vom Sozialgeld. Auch hier zeigt sich wieder die typisch räumlich-soziale Konzentration. So sind im Bezirk Mitte 42,1% der Kinder unter sieben Jahren von Armut betroffen. In Stadtteilen wie Billstedt und Wilhelmsburg liegen diese Anteile bei über 50%.

In der besonderen Betroffenheit von Kindern und Jugendlichen in den Armutsquartieren (Armutsgefährdungsquote 2010: 25,3%) kommt die besonders schwierige Situation der dort lebenden Familien und Alleinerziehenden zum Ausdruck. So liegt die Armutsgefährdungsquote (gemessen am Landesmedian) bei Familien von drei oder mehr Kindern bei 39,6%. Bei alleinerziehenden Müttern waren es 2010 sogar 42,8%.Bei den jungen Heranwachsenden ist die Situation nur wenig besser. So lebten im April 2011 12,8% der 15-24jährigen HamburgerInnen in einer SGB II-Bedarfsgemeinschaft. 12,6% der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten dieser Altersgruppe waren ohne Arbeit.

Angesichts dieser Zahlen muss von einer deutlichen Verfestigung von Armutsstrukturen gesprochen werden. Zwar gab es im Zeitraum 2006-2011 eine geringfügige Abnahme der Kinderarmut in Hamburg wie im Bundesgebiet. So ist die SGB II-Hilfequote bei Kindern unter 15 Jahren (Anteil der Sozialgeldbezieher an dieser Altersgruppe) auf Bundesebene von 16,3% im September 2006 auf 15,0% im September 2011 gesunken. In Hamburg hat sich der entsprechende Anteil von 24,1% in 2006 auf 21,6% in 2011 verringert. Vor dem Hintergrund der guten Konjunktur in 2010/2011 muss dieser Rückgang allerdings als bescheiden bezeichnet werden.

Hinzu kommt, dass über die SGB II-Indikatoren das gesellschaftliche Ausmaß von Verarmung nicht vollständig erfasst wird. Der massive Ausbau prekärer Beschäftigungsverhältnisse (in Hamburg aktuell z.B. 100.000 ausschließlich geringfügig Beschäftigte) hat dazu, dass viele Familien gerade nur das Nötigste zum Leben besitzen, ohne Ansprüche auf ergänzende Sozialleistungen zu haben oder geltend zu machen. Der Abbau der sozialen Infrastruktur der Stadt trifft diese Familien zudem besonders hart.

Vor diesem ökonomisch-sozialen Hintergrund ist es politisch nicht verantwortbar, soziale Bedürfnisse und Anforderungen zulasten der Betroffenen kostenmäßig begrenzen zu wollen. Gerade das im Zusammenhang mit dem Fall Chantal kritisierte Konzept der »milieunahen Unterbringung« hatte auch einen ökonomischen Hintergrund, weil man dadurch Kosten sparen wollte. Darüber wird jetzt allerdings nicht gesprochen.Gegen die von Olaf Scholz geforderte »empirische Wende in der Jugendsozialarbeit« lässt sich wenig einwenden, wenn sie denn im Sinne der Betroffenen tatsächlich stattfindet.

Selbstverständlich macht es Sinn, wie vom Senat geplant, im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe durch den Ausbau von sozialräumlichen Angeboten – vor allem vor dem Hintergrund des Kahlschlags der letzten 20 Jahre – ein Netz für die Kinder und Jugendlichen und ihre Eltern zu knüpfen, das ihnen hilft, mit ihrer schwierigen Situation fertig zu werden. Gleichzeitig muss aber der Rechtsanspruch auf Hilfen zur Erziehung erhalten bleiben, weil in vielen Fällen die bisherigen Interventionsformen angemessen und hilfreich sind.Für eine grundlegende Verbesserung der Lebenssituation dieser Familien bedarf es über die Familien- und Jugendhilfe hinaus weitergehender Maßnahmen und Initiativen. Dazu gehören verbesserte Angebote der Kinderbetreuung, der schulischen und beruflichen Bildung, aber auch und nicht zuletzt bezahlbarer Wohnraum.

Für Eltern wie Kinder geht es zudem um gezielte Maßnahmen der beruflichen Qualifikation und Arbeitsplatzangebote, um aus dem Teufelskreis der Armut ausbrechen zu können. Wichtig vor allem auch, dass den Alleinerziehenden durch entsprechende öffentliche Angebote (von der Kinderbetreuung bis zu [Teilzeit-] Beschäftigung) die gesellschaftliche Unterstützung gewährt wird, die sie brauchen.Zur »empirischen Wende in der Jugendsozialarbeit« gehört aber auch die bessere personelle Ausstattung der Jugendämter.

Es ist scheinheilig, die Schuld am »Fall Chantal« und anderen Missständen jetzt bei den freien Trägern zu suchen, die früher staatlich organisierte Angebote der Kinder- und Jugendhilfe übernommen haben – auch, weil die Stadt dadurch (beim Personal) sparen wollte. Für eine qualitativ hochwertige Kinder- und Jugendarbeit müssen die staatlichen Stellen wie die freien Träger mit den entsprechenden personellen und finanziellen Ressourcen ausgestattet werden. Dies wäre – neben Frage der politischen Verantwortung – eine wichtige Schlussfolgerung aus dem Drama um die 11 Jahre alte Chantal.

Das alles kostet Geld und die Haushaltslage ist mehr als angespannt. Unter dem Blickwinkel einer »Ökonomie des ganzen Hauses« ist das kurzatmige Sparen im Sozialetat allerdings mehr als kontraproduktiv. Kosten, die hier gespart werden, fallen dann anderswo an – bei den folgenden Generationen oder aber auch in späteren Entwicklungsperioden der Betroffenen. Zudem mahnen die Ereignisse in vielen anderen europäischen Ländern, welche Folgen Perspektivlosigkeit und ausbleibende staatliche Hilfen gerade für Kinder und Jugendliche zeitigen können. Die »Schuldenbremse« droht allerdings auch hier zum entscheidenden Bremsklotz für eine bessere Zukunft für die jungen BürgerInnen dieser Stadt zu werden.

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